Kapitel 44

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„Es wird Zeit.", rief Nicolas und erhob die Hände, Nun wird es geschehen."

Auch die anderen Necromancer erhoben ihre Hände gen Himmel und stimmten einen murmelnden Gesang an. Nacheinander traten sie an das Pentagramm heran und stellten sich in einem großen Halbkreis auf. Junes Atem ging rasselnd. Wo sie auch hinschaute sah sie schwarze Kutten. Ihr Herz schlug immer schneller. Wo blieben ihre Freunde?

Alexander stellte sich neben seinen Sohn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. In Junes Augen bildeten Tränen. Aiden war noch dort drin und er würde das Ritual nicht überleben. Doch sie konnte nichts tun. Ihre Hände waren hinter ihrem Rücken zusammengebunden und auch ihre Füße waren mit einem Seil zusammengeschnürt.

„Führt sie rein!", forderte Alexander nun laut. Auf seinem Gesicht hatte sich ein überlegendes Lächeln ausgebreitet, „Sobald sie im Pentagramm sind wird es beginnen. Dann werden die Schleier zwischen den Welten fallen und die Geister werden frei sein und auch mich werdet ihr wieder in meiner richtigen Gestalt bewundern können."

June schaute sich hektisch um, doch noch immer konnte sie keinen von ihren Freunden erkennen. Würden sie sie rechtzeitig finden?

June versuchte nicht daran zu denken. Ihre Freunde würden sie finden und sie retten, genauso wie sie Aiden retten würden. Doch die Zweifel ließen sie nicht los. Was war, wenn nicht? Was würde dann passieren?

Auf Alexanders Befehl hin, lösten sich drei der Sektenmitglieder aus dem Halbkreis und gingen hinüber zu einer der Wände. June schaute ihnen nach.

Einer der Necromancer betätigte einen geheimen Mechanismus in der Wand. June hörte ein fürchterliches Quietschen und Knacken, dann verschwand die Wand im Boden und gewährte den Blick in einen dunklen Raum.

June kniff die Augen zusammen. Sie meinte drei Personen erkennen zu können, die weiter in die Dunkelheit rückten. Als der Schein einer Fackel in den Raum fiel, streifte er für einen kurzen Moment die Gesichter der Personen. June konnte flüchtig einen Mann und zwei Frauen erkennen, die die Sektenmitglieder aus schreckgeweiteten Augen anstarrten. Nacheinander wurden die Personen hochgerissen und nach vorne gestoßen, sodass sie aus dem Gefängnis stolperten. June erkannte, dass man auch ihnen die Hände zusammengebunden hatte. Außerdem hatte man sie mit schmutzigen Tüchern geknebelt.

Je weiter sie auf das Pentagramm zu kamen, desto mehr konnte June von ihnen erkennen. Eine der Frauen hatte lange blonde Haare und war vielleicht Anfang zwanzig. Die zweite Frau schätzte June auf ungefähr dreißig. Sie hatte hellbraune Haut und kinnlange schwarze Haare. Der Mann war ungefähr Mitte vierzig.

June keuchte entsetzt auf, als sie die blauen Flecken und Prellungen, sowie Platzwunden bei den Personen erkennen konnte. Ihre Augen waren von tiefen Schatten umgeben und ihre Haut war kalkweiß. Vor allem der Mann sah aus, als ob er seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen hätte.

Die drei wehrten sich nicht und schauten krampfhaft auf den Boden. „Wozu sollten sie sich auch wehren?", dachte June, „Sicher stammen die Prellungen und Wunden von ihren etlichen gescheiterten Fluchtversuchen."

Schließlich wurden die Geiseln nacheinander neben ihr ins Pentagramm und auf den Boden gestoßen. Die Frau mit den blonden Haaren wimmerte leise auf und schloss die Augen. June warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Sie hatten das nicht verdient, keiner von den Dreinen. Keiner von ihnen wusste, dass es Geister gab, geschweige denn, dass man sie für ein total krankes Ritual brauchte.

June zuckte zusammen, als der Mann dicht neben ihr auf die Knie fiel. Er ließ es einfach geschehen. Kein Laut drang über seine Lippen. June konnte seinen leeren Blick aus dem Augenwinkel erkennen.

Auf einmal beugte sich der Necromancer, der den Mann neben ihr auf den Boden gestoßen hatte, unbemerkt zu June herunter und wisperte: „Vertrau uns. Wir sind hier." Es war eine Frauenstimme. June wollte aufsehen und wissen wer sie war, doch da hatte sich die Frau schon wieder aufgerichtet und war wieder auf ihren Platz gegangen. Junes Herz schlug so schnell, als wäre sie einen Marathon gerannt. „Wir sind da.", dachte sie. Hatte die Frau ihre Freunde gemeint? Vorsichtig schaute sie sich um, doch noch immer konnte sie keinen ihrer Freunde erkennen.

Nun winkte Nicolas einen weiteren Necromancer zu sich. Als dieser vor ihm stand, legte er ihm eine Hand auf die Schulter. „Simon, würdest du uns die Ehre erweisen und den Geisterstein holen?", säuselte er und schenkte dem hochgewachsenen Mann ein säuerliches Lächeln. Simon deutete eine leichte Verbeugung an und schritt anmutig zu einer Reihe von Tischen, auf denen eine Schatulle stand.

June zitterte am gesamten Körper. Durch den Kreis der Necromancer konnte sie kaum erkennen, was Simon dort an den Tischen tat. Diese Ungewissheit ließ sie erschauern. Simon öffnete währenddessen die Schatulle und holte einen etwa faustgroßen Stein heraus. Ehrfürchtig betrachtete er ihn.

Dean fummelte nervös an dem Griff des Dolches herum. Sie hatten sich zu beginn des Rituals unter die restlichen Necromancer gemischt. Bis jetzt war alles gut verlaufen und sie waren unentdeckt geblieben. Dean warf Nicole einen beunruhigten Seitenblick zu. Diese versuchte sich an einem hoffnungsvollen Gesichtsausdruck, doch auch ihr war die Anspannung anzumerken. Sie war eine der Necromancer gewesen, die die Geiseln in die Mitte gebracht hatten. Dort war es ihr möglich gewesen June zu sagen, dass sie hier waren. Dean schaute zu Jack, der mit Robin und Cole auf der anderen Seite des Halbkreises stand und unsicher im Schatten seiner Kapuze zu ihm herüberschaute.

Nun jedoch richteten sich alle Blicke auf Nicolas und Alexander Savigen, sowie auf Simon, der nun den Geisterstein vor die Geiseln und June legte.

Alexander bohrte mit seinem Finger in Corvins Rücken. „Fang an Zauberer!", zischte er scharf, „Ich will meinen Körper zurück."

Corvin zuckte bei der Berührung zusammen und nickte schließlich. „Ja Sir.", murmelte er und schloss die Augen. Deans gesamter Körper spannte sich an und umklammerte den Dolch fester. Jetzt ging es los.

Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt