Kapitel 31

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Jack vergrub seine Hände in den Hosentaschen und bog in den kleinen Feldweg ein, der ihn zum Friedhof führte. Nach der Schule war er mit Robin zum Krankenhaus gegangen, um nach Aiden zu sehen. Außerdem hatte er sich auf dem Weg dorthin bei Dean entschuldigen wollen, der ihn den ganzen Tag keines Blickes gewürdigt hatte. Dean war jedoch gleich nach der Schule spurlos verschwunden. Als sie beim Krankenhaus angekommen waren, hatten sie June schon vom weitem vor dem Krankenhaus stehen sehen. Sie hatte Robin und Jack erzählt, dass Aiden nun weiter untersucht würde und außerdem sehr viel Ruhe bräuchte, womit ihn keiner besuchen durfte. Die Drei hatten sich auf den Rückweg gemacht. June hatte Robin eingeladen noch mit zu den Zwillingen zu kommen, denn weder sie noch Robin wollten allein sein. Jack brauchte jedoch seine Ruhe und hatte sich von den Mädchen getrennt.

Robin kickte einen Stein zur Seite. „Ich hätte gerne mit Aiden gesprochen.", sagte sie leise, „Ich mache mir Sorgen um ihn." June nickte. „Ich weiß..."

Schweigend gingen sie nebeneinander her, bis June Robin aus dem Augenwinkel ansah. „Du solltest zu ihm gehen.", meinte sie.

Robin verschränkte die Arme. „Ich glaube Jack will jetzt lieber allein sein.", sagte sie leise und schaute auf den Boden. „Ich kenne meinen Bruder Robin. Er braucht jemanden mit dem er reden kann, auch wenn er so tut als müsste er das nicht."

„Dann solltest du zu ihm gehen. Du bist schließlich seine Schwester.", meinte Robin, den Blick immer noch auf den kalten Stein gesenkt.

June schüttelte den Kopf. „Nein. Er wird mir seine Sorgen nicht anvertrauen. Ich kenne meinen Bruder. Er will stark sein und mich nicht mit seinen Sorgen belasten, doch innerlich zerreißt ihn all das."

Robin seufzte. „Wo ist er jetzt?", fragte sie und schaute auf. „Da wo er für niemanden stak sein muss. Er ist bei Mamas Grab." Robin blieb stehen und griff nach Junes Hand. „Aber du kommst klar, ja?" June nickte. „Ja. Ich wollte eh noch was in dem Tagebuch nachschlagen. Geh du nur."

Jack schob vorsichtig das knarrende Tor zum Friedhof auf und schlüpfte hindurch. Unauffällig sah er sich um. June hatte nicht untertrieben. Er erkannte dutzende Geister, die ich unterhielten oder einfach nur dasaßen. Jack richtete seinen Blick wieder auf den kleinen Weg und ignorierte das wirre Treiben um sich herum.

Schließlich setzte er sich im Schneidersitz vor das Grab von Isabelle und schlang die Arme um seine Knie.

„Ich kann nicht mehr Mum.", wisperte er, „Ich kann das alles nicht."

Still lösten sich die ersten Tränen aus seinen Augenwinkeln. Jack wischte sie nicht weg. Er fühlte sie kalt auf seiner Haut.

„June leidet. Ihr fällt es schwer das alles zu verstehen. Ich will für sie da sein. Sie soll sich mir anvertrauen können. Ich will das es ihr gut geht.", sagte er mit bebender Stimme und schlang die Arme etwas fester um sich. Traurig schloss er die Augen. „Aber ich kann nicht." Jacks Stimme erstickte in einem Schluchzer. „Ich kann nicht.", sagte er nun etwas lauter.

„Es tut alles so weh!", schrie er, „Du bist weg Mum! Wir haben es geschafft wieder zur Normalität zurückzukommen und nun wird diese alte Wunde wieder aufgerissen! Mum ich habe Angst! Ich will das du wieder da bist. Ich will das du mich in den Arm nimmst und mir versicherst, dass alles gut wird."

Jack schaute vom Grabstein auf und blickte in den von grauen Wolken verhangenen Himmel. „Aber das kannst du nicht. Du bist tot.", flüsterte Jack erstickt. „Und was nutzt uns diese blöde Gabe, wenn du noch nicht einmal für uns da bist!", fügte er hinzu und vergrub das Gesicht in den Armen. „Ich fühle mich allein.", gab er zu, „Ich will stark sein, aber...", seine Worte erstickten und er begann hemmungslos zu weinen.

Robin betrat den Friedhof und ging den kleinen Weg entlang. Ihre Augen wanderten suchend über die Grabsteine, als sie hinter einem einen schwarzen Haarschopf entdeckte. Ihre Schritte beschleunigten sich etwas, sie bog um eine Ecke und blieb stehen. Sie sah Jack zusammengesunken vor dem Grabstein sitzen. Er bebte und Robin konnte ihn leise weinen hören. Vorsichtig ging sie auf ihn zu und setzte sich neben ihn. Er bemerkte sie gar nicht. „Ich kann mich nicht mehr verstellen und so tun als würde ich mit der Situation klarkommen.", hörte Robin Jack leise sagen. Dieser Satz versetzte ihr einen Stich ins Herz. Vorsichtig legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. „Jack?" Jack zuckte zusammen und drehte ihr den Kopf zu. Robin schaute in zwei kleine rot geweinte Augen. Jack wischte sich schnell über die Augen und versuchte die Spuren der Tränen flüchtig zu beseitigen. „Ich...", begann er. Robin strich ihm über den Arm und schaute ihn mit einem traurigen Lächeln an. „Du brauchst dich nicht zu verstellen Jack.", sagte sie leise. Sie sah, wie sich Jacks Augen wieder mit Tränen füllten, obwohl er mit aller Kraft dagegen ankämpfte. „Es ist in Ordnung Jack.", flüsterte Robin und zog Jack zu sich. Sie nahm ihn in den Arm und legte ihren Kopf auf seinem ab, während Jack wieder leise zu schluchzen begann. Beruhigend strich sie ihm über den Rücken. „Ich bin für dich da Jack. Immer." Sie spürte wie Jack in ihren Armen rasselnd Luft holte.

„Ich kann das einfach nicht Robin.", brachte er zwischen zwei Schluchzern hervor, „Es ist einfach so viel. Erst finden wir raus was wirklich mit Mum passiert ist und was mit uns los ist. Jetzt liegt Aiden im Krankenhaus und ich habe Dean angeschrien ohne jeglichen Grund. Ich weiß nicht wo er ist. Ich will June nicht mit alledem belasten. Es ist...als würde alles zerbrechen. ", stieß er hervor, löste sich von Robin und schaute ihr in die Augen. „Ich bin froh, dass du noch da bist und mich und June nicht mit diesem Wahnsinn allein lässt. Wenn du doch austeigen willst dann..."

Robin legte Jack einen Finger auf die Lippen. In ihrem Magen kribbelte es. „Mich wirst du nicht los.", flüsterte sie.

Jack senkte den Kopf. „Und da bin ich sehr froh drüber, aber vielleicht ist es besser, wenn du aussteigst. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn du auch im Krankenhaus liegen würdest oder ich mich mit dir streiten würde.", flüsterte Jack kaum hörbar.

„Ich lass euch nicht allein Robin rutschte näher an ihn heran und hob sein Kinn an. Nun schaute sie ihr direkt in die Augen. Seine wunderschönen grünen Augen fingen ihren Blick ein. Das komische Gefühl in ihrem Magen verstärkte sich. Jack war ihr so nah, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. Vorsichtig wischte sie ihm eine Träne aus dem Gesicht. Ihre Augen glitten rastlos von Seinen zu seinen wohlgeformten Lippen und wieder zurück. Unsicher und zögerlich näherte sie sich Jacks Gesicht. Dieser beobachtete sie nur stumm. Das Kribbeln hatte sich nun in Robins gesamten Körper ausgebreitet. Schließlich nahm sie allen Mut zusammen und überbrückte die letzten Zentimeter zwischen ihnen. Vorsichtig suchte sie seine Lippen. Sie waren weich. Jack war überrascht, doch brach den Kuss nicht ab. Schließlich öffneten sich seine Lippen und er erwiderte den Kuss. In diesem Moment fiel alles von ihm ab. Er dachte nicht daran was war, noch daran was später noch sein würde. Es gab nur diesen Moment. Robins Lippen auf seinen. Langsam vergrub er seine Hand in ihren Haaren. Er war so glücklich.

Langsam löste sich Robin wieder von ihm und schaute ihn unsicher an. „Ich...es tut mir leid." Jetzt war es Jack, der seinen Finger auf ihre Lippen legte. „Dir braucht es nicht leidzutun." Langsam ließ er seinen Finger wieder sinken. „Ich liebe dich Robin.", hauchte er und küsste sie erneut. Robin schloss glücklich die Augen.

Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt