Kapitel 28

178 19 9
                                    

June spielte nervös mit einer Haarsträhne. Sie saß in dem kahlen Warteraum der Notaufnahme. Als sie beim Krankenhaus angekommen waren, hatten die Sanitäter Aiden sofort zur Untersuchung gebracht. June hatte draußen warten müssen und da saß sie jetzt immer noch. Allein und voller Angst um ihren Freund.

Plötzlich schwang die große Eingangstür zur Notaufnahme auf und eine Frau mittleren Alter lief auf June zu. Es war Aidens Mutter. June stand auf und ging auf die Frau zu. Diese öffnete die Arme und schloss sie um June. „Nora.", flüsterte June leise. Nora schaute sich hektisch um. „Wo ist Aiden?", fragte sie unter Tränen. June deutete auf eine Zimmertür. „Da.", sagte sie mit heiserer Stimme, „Sie haben mich nicht zu ihm gelassen."

Nora brach auf einem der weißen Plastikstühle zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich bin so eine schlechte Mutter.", schluchze sie, „Ich war nie da und habe nicht bemerkt, dass es Aiden schlecht geht."

June legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Es ist nicht deine Schuld Nora.", versuchte sie Aidens Mutter zu beruhigen. Da schwang die Tür des Krankenzimmers auf und ein Arzt trat heraus. „Frau Savigen?" Schlagartig war Nora auf den Beinen. „Wie geht es ihm?"

„Er ist wach und stabil.", meinte der Arzt und klemmte sich seinen Notizblock unter den Arm. „Können wir zu ihm?", fragte June aufgeregt, jedoch mit einem flauen Gefühl im Magen.

Der Arzt nickte. „Ja dürfen sie.", sagte er und trat einen Schritt zur Seite. June und Nora stürzten beinahe gleichzeitig durch die Tür und standen dann in dem Zimmer, in dessen Mitte ein Bett stand. Auf dem Bett lag Aiden. Nora fiel vor dem Bett auf die Knie und griff nach Aidens Hand. „Aiden...", murmelte sie, „Es tut mir so leid." Aiden drehte seinen Kopf zu Nora. Seine Augen waren klein und seine Hautfarbe glich der einer gräulichen Wolke. „Ich war nicht oft genug da um zu merken, dass es dir nicht gut geht.", fuhr Nora fort. Aiden drückte ihre Hand. „Mach dir bitte keine Vorwürfe Mama.", antwortete er. Seine Stimme war rau und tonlos. Nora hob seine Hand an und küsste sie sanft.

„Es wird alles gut mein Schatz. Ich verspreche es.", flüsterte sie. June betrachtete die Beiden von der Tür aus. In ihrem Magen bildete sich ein Knoten aus Sorgen als sie Aiden so in dem Bett sah. Er sah schrecklich aus. June wurde irgendwie das Gefühl nicht los, dass sie teils schuld daran war, dass Aiden nun hier lag. Sie hätte merken müssen, dass es ihm schlechter ging, als er es zugeben wollte, aber sie war zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen.

Aiden drehte seinen Kopf in ihre Richtung und schaute sie eindringlich an. Sein Blick sagte: „Es ist nicht deine Schuld." und „Mach dir keine Sorgen."

Doch June machte sich Sorgen und fummelte an dem Ärmel ihrer Jeansjacke herum. Dann hörte sie Schritte hinter sich und der Arzt stand hinter ihr. Auch Nora hatte ihn bemerkt. „Kann ich sie mal sprechen Frau Savigen?", fragte der Arzt. Er versuchte seine Stimme ruhig klingen zu lassen, doch June konnte an seinem Gesicht ablesen, dass er keines Falls gute Nachrichten hatte. Nora nickte, ließ Aidens Hand los und stand auf. „Ich komme.", antwortete sie und wischte sich über die Augen. Sie drehte sich zu June. „Kannst du hierbleiben?" June nickte. Als würde sie irgendwo anders hingehen wollen. Sie wollte bei Aiden bleiben. Sie trat einen Schritt zur Seite, sodass Nora sich an ihr vorbeischieben konnte. Kurz darauf schloss sich die Tür hinter ihr. June ging auf Aiden zu und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Aiden versuchte sich aufzusetzen. Er presste die Zähne zusammen, als ein stechender Schmerz durch seinen Körper schoss. June drückte ihn vorsichtig wieder auf das Bett. „Bleib liegen.", befahl sie. Aiden schaute sie aus großen Augen. „Es tut mir leid June.", flüsterte er.

„Was sollte dir leidtun?", fragte June sanft. Aiden drehte den Kopf weg. „Es tut mir leid, dass ich dich heute früh so angefahren habe. Ich weiß selbst nicht warum ich das getan habe. Schließlich wolltest du nur helfen und ich war so ein Idiot." June beugte sich vor und gab Aiden einen Kuss auf die Stirn. „Es ist okay.", flüsterte sie, „Du hattest Schmerzen. Ich weiß, dass man dann nicht immer so handelt wie man sollte."

Aiden schüttelte den Kopf. „Das war es nicht."

June schaute ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Besorgnis an. „Was ist dann passiert?", fragte sie und griff nach Aidens Hand. Vorsichtig strich sie über die Brandblasen, darauf bedacht Aiden nicht wehzutun.

„Es war als wäre ich nicht ich selbst gewesen.", sagte Aiden leise, „Irgendwas stimmt mit mir nicht June! Ich habe Angst!"

June nickte langsam. „Ich weiß wie das ist.", murmelte sie.

„Warum denkst du, dass etwas mit dir nicht stimmt?", fragte sie dann und schaute Aiden tief in die mit dunklen Rändern unterlaufenden Augen. „Ich habe Gedächtnislücken June. Ich weiß, dass sich gestern Nacht im Badezimmer zusammengebrochen bin, aber heute Morgen bin ich in meinem Zimmer aufgewacht, in meinem Bett.", sagte Aiden. June biss sich auf die Unterlippe. „Vielleicht hast du dir den Kopf angeschlagen und weißt einfach nicht mehr, dass du dann wieder in dein Bett gegangen bist.", versuchte sie eine plausible Erklärung zu finden.

„Nein June. Ich habe mir zwar den Kopf angeschlagen und hatte dort auch eine Wunde, aber ich bin nicht einfach wieder aufgestanden und in mein Bett gegangen!"

„Wieso bist du dir da so sicher?"

„Als ich heute Morgen aufgewacht und ins Badezimmer gegangen bin, habe ich Blutflecken auf dem Flurboden gesehen, Sie waren zwar klein, aber ich bin mir sehr sicher, dass sie von mir waren. Die Flecken führten aber nicht in mein Zimmer, dann hätte ich auch sicher Blut auf meinem Kissen finden müssen, sondern sie führten die Treppe herunter und ich kann mir nicht denken, dass etwas da unten gewollt haben könnte."

June schwieg. „Vielleicht wolltest du dir ein Kühlpack holen", meinte sie dann unsicher. Aiden schüttelte entschieden den Kopf. „Wir haben gar keine."

„Und ich muss dir noch etwas zeigen.", fügte er dann noch hinzu.

Aiden atmete tief durch und griff sich dann unter das T- Shirt, welches einige Blutflecken aufwies. Er stieß einen gequälten Laut aus, als er eine Taschenuhr herausholte, die um seinen Hals baumelte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ er sie fallen, sodass sie nun gut sichtbar auf seinem Brustkorb ruhte. Schwer atmend betrachtete er seine Finger. Auch June keuchte auf. Auf Aidens Fingern hatten sich neue Brandblasen gebildet, alle genauso schwarz wie die, die sie auf seiner anderen Hand gesehen hatte.

„Was ist das?", fragte sie. June konnte sich die Frage jedoch sofort selbst beantworten, denn sie erkannte diese Taschenuhr wieder. „Das ist der Gegenstand, den du in der Hand hattes als wir nach dem Schlüssel gesucht haben.", murmelte sie verdutzt.

„All der Schmerz, den ich fühle...ich glaube er kommt von dieser Taschenuhr. Die Brandwunden, die Schwindelanfälle, ich denke einfach alles!", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als würde es ihm große Schmerzen zufügen June das zu erzählen. „Ich wollte es dir erzählen, aber ich konnte einfach nicht. Es war als würde mich etwas abhalten ", stöhnte er. June sah ihn besorgt an. „Was ist los?", fragte sie besorgt. „Es tut weh darüber zu reden.", sagte Aiden, „Als würde etwas nicht wollen, dass ich dir das erzähle." Ein stechender Schmerz durchfuhr Aiden und er schrie leise auf. June konnte nichts tun.

Aidens Brust hob uns senkte sich unregelmäßig, als er sich wieder zu ihr drehte. „Mir geht es erst so schlecht seit ich dieses Ding habe.", hauchte er. June sah Tränen in seinen Augen aufsteigen. Das alles schien ihm wirklich große Schmerzen zu bereiten. Aiden wollte noch etwas sagen, doch June legte ihm schnell einen Finger auf die Lippen.

„Du solltest nicht darüber reden. Es tut dir weh." Aiden sah sie müde an.

„Ich habe Angst June.", flüsterte er. June strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich weiß.", wisperte sie, „Ich weiß."

Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt