Kapitel 2

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Am nächsten Tag wurde June von einem leichten Rütteln an ihrer Schulter geweckt. Jack grinste sie an. „Happy Birthday June." Etwas verwirrt schaute June ihn an, bis es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Die Geschwister hatten Geburtstag. „Was ist? Willst du mir etwa nicht gratulieren? „, fragte Jack etwas gekränkt. June lachte. „Doch ich will dir gratulieren, aber ich musste ja noch etwas warten, schließlich bin ich zwei Minuten älter als du.", sagte sie frech und boxte ihm in die Seite. „Happy Birthday Jack."

„Siebzehn, hm?", meinte Jack etwas nachdenklich, „Noch ein Jahr und dann sind wir volljährig...", schmunzelte er. Ihm gefiel der Gedanke dann allein Auto zu fahren und ohne falschen Ausweis in Diskotheken zu gehen. June machte es eher Angst. Angst, dass sie so schnell älter wurden und Verantwortung übernehmen mussten. Sie fürchtete sich davor. Jack strich ihr über die Wange. „Hey, was ist los?", fragte er sanft. „Ich wünschte Mama wäre hier.", gab June kleinlaut zu.

Jack nahm June in den Arm, während sie versuchte einige Tränen zu verstecken. „Mum ist immer hier.", flüsterte Jack und löste sich von June. „Wir sollten uns fertig machen und runtergehen.", fügte er dann noch lächelnd hinzu. June seufzte und stand auf, Jack schaute ihr nach, bis sie die Tür hinter sich schloss. Dann stand er ebenfalls auf und ging zum Kleiderschrank. Er ließ seinen Blick kurz schweifen, entschied sich dann jedoch für sein Standartoutfit, welches eines seiner Holzfäller Hemden, eine zerrissene Jeans und eine schwarze Lederjacke umfasste. Jack zog sich schnell an und betrachtete sich im Spiegel. Er richtete den Kragen seines Hemdes und öffnete dann erneut die Schranktür. Er hob einige Kleidungstücke an und tastete darunter herum, bis er etwas Viereckiges zu fassen bekam. Lächelnd zog er eine kleine Schachtel heraus, auf dem ein Sticker mit der Aufschrift „Happy Birthday!" prangte. Jack schob die Schachtel in seine Hosentasche und machte sich auf den Weg nach unten.

June kramte währenddessen in einer Kiste unter ihrem Bett herum. Sie wusste, dass sie es hier versteckt hatte. „Mist!", fluchte sie leise und zog die Kiste ganz unter dem Bett hervor. Genervt nahm sie einige ihrer Stofftiere heraus und warf sie achtlos auf den Boden. Jack machte sich immer darüber lustig, dass sie noch all ihre Stofftiere besaß und tat es als Kinderkram ab, mit dem er nichts zu tun haben wollte. June störte dies jedoch nicht. So ließ Jack wenigstens die Finger von ihrer Stofftierbox, was dazu führte, dass June sie schon seit Jahren als ihr Geheimversteck benutzte. June hob einen grauen Stoffelefanten hoch und fand endlich wonach sie gesucht hatte. Sie hielt ein kleines Säckchen in der Hand. Schnell überprüfte sie, ob sich das Lederarmband, was sie extra für Jack hatte anfertigen lassen, noch immer in dem Beutel befand. Ihr Blick schweifte über den silbernen Anhänger, mit dem eingravierten Unendlichkeitszeichen, welches ihre Initialen umfasste. Jack würde sich sicher darüber freuen. June steckte das Armband lächelnd zurück in den Beutel, stand auf und verließ ihr Zimmer, den Beutel fest in der Hand.

Jack wartete vor der verschlossenen Küchentür auf seine Schwester, wie er es jedes Jahr an ihrem Geburtstag tat, damit sie zusammen die Geburtstagswünsche entgegennehmen konnten. June kam wenig später die Treppe hinunter. Sie trug einen ihrer typischen Kapuzenpullis und hatte ihre Hände in den tiefen Taschen ihrer schwarzen Jogginghose vergraben. Gemeinsam betraten sie die Küche und wurden von einem fröhlichen „Happy Birthday!" empfangen. Ihr Vater stand vor dem großen Esstisch und breitete die Arme aus, als die Zwillinge die Küche betraten. Kurz darauf fanden sich die Beiden in einer liebevollen Umarmung wieder. „Alles Gute zum Geburtstag meine Kleinen", sagte er und löste sich von seinen Kindern.

„Von mir auch alles Gute." Ihr Halbruder Cole kam auf sie zu und gab erst June und dann Jack die Hand. Sein Händedruck war kraftvoll und kurz. Cole war zwei Jahre älter als die Zwillinge, hatte dunkelrote, etwas gelockte Haare und, für diese Haarfarbe untypische, braune Augen. Er war vor einem halben Jahr zu ihnen gezogen, da er hier in der Stadt einen Ausbildungsplatz gefunden hatte. Er meinte, er würde hier wohnen, bis er genug Geld für etwas Eigenes zusammen hätte. Die Zwillinge waren anfangs nicht sehr begeistert davon gewesen einen für sie Wildfremden aufzunehmen. Ihr Vater hatte nie von seiner ersten Ehe gesprochen und dementsprechend nie von Cole. Inzwischen hatten sie sich damit abgefunden, dass er hier ein und aus ging. Sie hatten glücklicher Weise nicht viel mit ihm zu tun, da er meistens früh aus dem Haus ging und erst spät wiederkam. Meistens war es so, als wäre er gar nicht da. Jack und June vergaßen manchmal, dass er überhaupt existierte.

„Setzt euch!", sagte ihr Vater und verschwand kurz aus der Küche. June und Jack ließen sich nebeneinander an dem Tisch nieder. Jack griff bereits nach einem der Brötchen, die in einer Schale auf dem Tisch standen. June schlug ihm auf die Finger, sodass das Brötchen mit einem dumpfen Ton auf den Teller fiel. „Hey!", protestierte Jack und schaute seine Schwester genervt an. „Warte doch bis Papa wieder da ist.", zischte sie und verdrehte grinsend die Augen, als Jack das Brötchen entschuldigend ansah. „Ich habe hier noch eine Kleinigkeit für euch.", hörten sie ihren Vater sagen, der kurze Zeit später jeweils ein Päckchen vor den Beiden abstellte und sich ihnen erwartungsvoll gegenübersetzte.

June löste vorsichtig die Schleife, während Jack bereits das Geschenkpapier zerriss. Wenig später hielt er sein Geschenk in den Händen. Jack betrachtete seine neuen Kopfhörer. „Wow! Die sind mega cool! Danke Dad! Er legte sich die Kopfhörer um den Hals und schaute zu June, die nun den Karton öffnete und einen schwarzen Pullover herausholte. Mit strahlenden Augen betrachtete sie das Kleidungstück, welches, über und über, mit dem Covern ihrer Lieblingscomics bedruckt war. Glücklich hielt sie ihn vor sich und grinste ihren Vater an. Ich liebe ihn!" Ihr Vater lächelte. „Freut mich, dass euch die Geschenke gefallen." June sprang auf. „Den muss ich gleich anziehen!" Sie sah ihren Vater fragend an, der bestätigend nickte. June griff nach dem Pullover und verschwand aus der Küche.

Cole wandte sich ebenfalls zum Gehen. „Ich bin dann auch mal weg Tom.", meinte Cole. Er nannte seinen Vater nur beim Vornamen. Das war das Erste gewesen was Jack an ihm aufgefallen war, als er seinen Vater begrüßt hatte. Als Jack ihn darauf angesprochen hatte, hatte Cole nur gemeint: „Wieso sollte ich jemanden 'Papa' nennen, der mein ganzes Leben nicht da war?" Jack hatte sich gefragt warum Cole dann zu ihnen gezogen war. Er hätte auch bei seiner Mutter leben und dort nach einem Arbeitsplatz suchen können. Diese Frage hatte er nie beantworten können und Cole danach fragen wollte er nicht.

Tom nickte. Cole verließ den Raum, sichtlich erleichtert der Geburtstagsfeier nicht noch weiter beiwohnen zu müssen. „Tschüss June.", meinte er noch und schob sich an June vorbei, die die Küche gerade wieder betrat und Cole nur verwirrt nachsah. June war die Einzige mit dem Cole auch mehr als nötig mal ein Wort wechselte. Jack schien er hingegen nicht zu mögen, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie ignorierten sich soweit es möglich war und das war Beiden nur Recht.

June setzte sich wieder auf ihren Platz. Sie trug nun den neuen Pullover und strahlte über das ganze Gesicht. Jack belegte gerade sein Brötchen mit einer Scheibe Käse, unterbrach es jedoch, als June sich zu ihm drehte. „Ich habe da noch was für dich.", sagte sie und zog das kleine Säckchen aus ihrer Hosentasche. Jack nahm es entgegen und öffnete es. „Es ist wunderschön June.", sagte er und streifte sich das Armband über. „Danke." June grinste. „Ich wusste, dass es dir gefällt." Jack lachte und holte das kleine Kästchen aus seiner Hosentasche. „Das ist für dich." Er sah zu, wie June die Schachtel öffnete, während er von seinem Brötchen abbiss. „Wow Jack! Die ist wunderschön!" June hielt eine feine, silberne Kette in der Hand, an der ein kleiner Schlüssel baumelte. „Kannst du sie mir ummachen?", fragte sie und gab Jack die Kette. Dieser nickte. June nahm ihre Haare zur Seite und Jack verschloss die Kette in ihrem Nacken. „Danke."

„Der Pullover steht dir gut.", stellte Tom fest. Nun griff June ebenfalls nach einem Brötchen, schnitt es auf und bestrich es großzügig mit Schokocreme. Tom schaute auf seine Armbanduhr und seufzte. „Ich muss zur Arbeit.", sagte er wehmütig, stand auf und gab seinen Kindern einen Kuss auf den Kopf. „Viel Spaß in der Schule.", sagte er noch und verließ die Küche. June und Jack schauten ihm nach und widmeten sich wieder ihrem Frühstück.

June griff gerade nach ihrem Glas, als sie ein Gefühl des Schwindels überkam. Es war wie ein Stechen in ihrem Kopf und gleichzeitig wie ein Nebel, der sich um sie hüllte.

Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt