Kapitel 25

188 18 5
                                    

Im Licht der aufgehenden Morgensonne ging June den schmalen Sandweg zwischen den Gräbern hindurch. In der Hand hielt sie einen großen Blumenstrauß mit den Lieblingsblumen ihrer Mutter. Jedes Jahr an ihrem Todestag ging sie früh morgens zu ihrem Grab und brachte ihrer Mutter Blumen. Manchmal betete sie und manchmal saß sie einfach nur da. Es war ein Moment, wo sie sich ihrer Mutter nah fühlte.

Jedes Mal, wenn sie den Friedhof betreten hatte, hatte sie die anderen wunderschönen Grabsteine bewundert und sich gefragt wie die Personen wohl ausgesehen hatten. Als sie nun ihren Kopf nach rechts und links drehte, schluckte sie. Vor manchen Grabsteinen erkannte sie Personen, manche durchscheinend und in weißes Licht gehüllt, andere mit schwarzer verbrannter Haut oder großen Platzwunden. Einige saßen auf ihren Grabsteinen und starrten nur ausdruckslos in die Leere und wiederum andere unterhielten sich miteinander.

June lief ein Schauer über den Rücken, versuchte jedoch die Geister größtenteils zu ignorieren. Schließlich erreichte sie das Grab ihrer Mutter, welches ein kreuzförmiger Grabstein zierte, auf dem in großen, geschwungenen Buchstaben. „Isabelle Clairvoyance" stand. June kniete sich in das grüne Gras und legte die Blumen vor das Grab. Dann hob sie eine Hand und fuhr vorsichtig über die eingravierten Buchstaben des Grabsteines.

„Ich vermisse dich Mama.", flüsterte sie und ließ die Hand wieder sinken, „Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich wünschte du wärst hier."

June schloss die Augen und versuchte sich das Gesicht ihrer Mutter vorzustellen. Je weiter sich das Bild in ihren Gedanken formte, umso größer wurde die Leere in Junes Herzen. Sie versuchte sich an all die schönen Momente mit ihrer Mutter zu erinnern. Wie sie ihr Fahrradfahren beigebracht oder ihr ihren ersten Zeichenblock gekauft hatte. Bei diesen Erinnerungen löste sich eine Träne aus Junes Augenwinkel.

„Ich fühle mich allein.", schluchzte June leise und strich über den Grabstein.

Isabelle Clairvoyance betrachtete ihre Tochter aus einiger Entfernung. „Du bist nicht allein meine Kleine.", flüsterte sie, „Ich bin immer da und passe auf euch auf. Ich liebe euch."

„Och wie rührend." Isabelle fuhr bei dem Klang dieser Stimme herum und schaute in das Gesicht eines alten Mannes. „Alexander.", hauchte sie.

Der Mann nickte. „Der einzig Wahre." Alexander Savigen trat einen Schritt vor, sodass er nun direkt neben Isabelle stand. „Du hast schöne Kinder. Die Augen haben sie ganz klar von dir." Isabelle beobachtete Alexander aus dem Augenwinkel. „Du lässt sie in Ruhe! Sie sind viel zu stark für dich!", versuchte sie ihn zu verunsichern. Alexander lachte jedoch nur, was seine verfärbten Zähne zum Vorschein brachte. „Die sind nicht stark Isabelle. Sie sind schwach! Die Beiden haben absolut keine Ahnung wie sie sich schützen können. Ich habe ihre Angst gespürt, als ich sie an ihrem siebzehnten Geburtstag...besucht... habe."

„Du bist wahnsinnig! Du wirst ihnen nichts tun.", zischte Isabelle, „Oder..."

„Was oder? Du kannst nichts gegen mich ausrichten Isabelle."
Isabelle schaute zu Boden. Alexander lachte. „Ohhh, die armen Kinder.", höhnte er. Isabelle kochte vor Wut. „Du wirst sie nicht für dein dummes Ritual benutzen!", schrie sie und versuchte nach Alexander zu greifen, doch dieser wich ihr geschickt aus, sodass Isabelle auf den Boden fiel. Alexander drückte ihren Kopf weiter nach unten. „Ich habe gesagt, dass du keine Chance gegen mich hast Isabelle." Ruckartig ließ er ihren Kopf los, was Isabelle aufkeuchen ließ. Mit einem siegessicheren Grinsen drehte er sich um und begann sich langsam aufzulösen. Doch dann drehte er sich noch einmal um. „Eigentlich bist du ja an alledem schuld. Hättest du dich nicht törichter Weise umgebracht, müsste ich jetzt nicht deine Kinder benutzen.", sagte er lächelnd und verschwand dann vollständig. Isabelle seufzte. Sie wollte es zwar nicht zugeben, aber Alexander hatte Recht. Sie war schuld und musste ihre Kinder jetzt irgendwie schützen. Sie selbst würde ihnen nicht helfen können, aber sie kannte jemanden, der vielleicht helfen konnte. Isabelle hoffte, dass ihre Kinder bald den kleinen Zettel in ihrem Tagebuch finden und die Adresse aufsuchen würden. Das war vielleicht ihre einzige Chance.

June schloss die Haustür leise hinter sich und ließ ihre Jacke von den Schultern gleiten. Sie hängte sie auf und ging n die Küche, wo sie auf Jack traf, der mit einem Löffel in seinem Kakao herumstocherte. „Guten Morgen Jack.", sagte sie und setzte sich neben ihn. „Ich war bei Mamas Grab.", meinte June leise. Jack nickte. „Ich weiß. Ich gehe heute nach der Schule.", sagte er knapp angebunden. June nickte. Sie besuchten das Grab ihrer Mutter seit Jahren nicht mehr gemeinsam. Sie Beide brauchten etwas Zeit allein mit ihr.

„Ich habe dort viele Geister gesehen.", erzählte June. Eigentlich sollte sie sich ja nicht darüber wundern und doch tat sie es. „Es ist ein Friedhof June.", sagte Jack leise. June nickte. „Ich weiß, aber es war trotzdem unheimlich sie alle so zu sehen."

Plötzlich knallte Cole eine Zeitung vor den Geschwistern auf den Tisch. June und Jack zuckten zusammen. Sie hatten ihn gar nicht kommen hören. „Man Cole du hast mich erschreckt.", protestierte Jack.

„Tut mir leid, aber das müsst ihr euch ansehen.", sagte Cole und deutete aufgeregt auf die Titelseite. „Zwei neue Löwenbabys geboren...", las Jack laut vor, „Und?" Cole verdrehte die Augen. „Doch nicht das.", sagte er, „Ich meine das da." Er deutete auf die linke Hälfte der Seite. June drehte die Zeitung zu sich. „Vermisstenanzeigen.", murmelte sie erschrocken. Jack seufzte. „Na großartig.", stöhnte Jack, „Wie viele sind es schon?"

„Zwei.", antwortete June, „Eine von vorgestern und eine weitere Person wird seit gestern Nacht vermisst."

Aiden setzte sich in seinem Bett auf, bereute es jedoch sofort, als ein stechender Schmerz durch seinen Kopf jagte. Vorsichtig tastete er seinen Hinterkopf ab. Er stoppte, als er eine Kruste getrockneten Blutes ertastete.

Woher hatte er diese Wunde? Und wie war er wieder in sein Bett gekommen? Aiden versuchte sich an die vergangene Nacht zu erinnern. Er war aufgestanden und war ins Badezimmer gegangen. Sein Kopf schmerzte, als er versuchte sich weiter zu erinnern. Er hatte sich übergeben müssen. Das erklärte wenigstens den ekeligen Geschmack in seinem Mund.

Er hatte in den Spiegel geschaut und hatte sich dann vor irgendetwas erschrocken, doch er wusste nicht wovor. „Komisch.", murmelte Aiden. Wenn ihn etwas erschreckt haben sollte musste er sich doch daran erinnern, aber da war nichts. Das Nächste, an das er sich erinnern konnte war, dass er zur Tür getaumelt war. Ab da war dann alles verschwommen. Er konnte sich nicht erinnern wie er in sein Zimmer, geschweige denn in sein Bett, gekommen sein sollte. Ein leichtes Gefühl der Angst beschlich ihn. Eine Gedächtnislücke. Zwar nur klein, aber sie war da. Was hatte das zu bedeuten? Ein weiterer stechender Schmerz jagte durch seinen Kopf und hinderte ihn daran weiter nachzudenken.

Vielleicht würde ja eine heiße Dusche diese Kopfschmerzen vertreiben. Aiden stand also auf und schlurfte zum Badezimmer. Vor der Tür stoppte er und starrte verwirrt auf den Holzboden des Flures. Auf dem Boden konnte er kleine rote Flecken erkennen. Reflexartig fasste er sich wieder an den Hinterkopf, wo er wieder das verkrustete Blut spüren konnte. Es war ganz sicher sein Blut.

Sein Blick folgte den Flecken auf dem Boden, doch sie führten nicht zu seinem Zimmer wie er gedacht hatte, sondern die Treppe hinunter. Aiden fasste sich an den Kopf. Warum konnte er sich verdammt nochmal nicht daran erinnern?

Wieder überkam ihn ein Schwindelgefühl und er musste sich am Treppengeländer festhalten. Was passierte hier mit ihm? Ein weiterer kurz aufflammender Schmerz direkt auf seiner Brust ließ ihn aufschreien.

Vorsichtig tastete er auf seinem Brustkorb herum, bis seine Finger das silberne Metall einer Taschenuhr streiften. Es fühlte sich an, als würden seine Finger verbrennen. Ruckartig zuckte er zurück und betrachtete seine Finger, die nun schwarze Brandblasen aufwiesen.

Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt