Kapitel 12

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Vor Junes Augen stieg eine Gestalt aus dem Bach. Von ihrem Körper lief das klare Wasser in Fluten herunter und June meinte durch die Wassermassen zerrissene Kleidung zu erkennen. Als das Wesen sich zu verformen begann, stockte June vollkommen der Atem. Vor ihren Augen stand ein Kind. Es war ein kleiner Junge. June schätzte ihn auf ungefähr zehn Jahre. Auf seiner Stirn prangte eine Platzwunde, aus der unaufhörlich Blut quoll. Er sah sie aus traurigen Augen an. June konnte ihn nur anstarren. Coles Rütteln an ihren Schultern ignorierte sie.

„Du kannst mich sehen?", fragte der kleine Junge und kam auf June zu, die ein Stück zurückrutschte. „Ja, ich kann dich sehen.", flüsterte sie. Cole schaute zu der Stelle auf die June starrte. „Was siehst du da? June?"

„Dann bist du jetzt wohl siebzehn.", sagte der Junge mit einem verschmitzten Lächeln. June blinzelte. „Was meinst du damit? Woher wusstest du, dass ich dich mit siebzehn sehen kann?"

„Wen kannst du sehen? June bitte rede mit mir!" June hob die Hand. Der Junge grinste. „Ihr seid süß zusammen.", sagte er. „Nein, er ist nicht mein...er ist mein Halbbruder.", stellte June klar. Der Junge verdrehte die Augen. „Naguuut.", sagte er gedehnt. „Jetzt zu deiner anderen Frage. Ich lebe oder besser gesagt lebe nicht, seit Jahren in diesem Bach. Ich habe dich aufwachsen sehen. Ich habe gesehen, wie du mit deiner Mutter hier warst und dass sie Geister sehen konnte, weiß jeder. Da war es nur logisch, dass du die Gabe auch hast."

„Wer weiß noch, dass ich und Jack euch sehen können?", fragte June und ignorierte Cole, der sie immer noch anstarrte, als hätte sie den Verstand verloren. Der Junge zuckte mit den Schultern. „So gut wie jeder. Die verbrannte Frau vom Blumenladen hat gequatscht." Der Junge drehte sich im Kreis.

„Scheiße.", murmelte June. Dann sah sie wieder zum Jungen, der sich langsam auflöste. „Es tut mir leid, was mit dir passiert ist.", sagte sie. Der Junge winkte ab. „Ist nicht so schlimm. Meine Mutter ist auch hier.", lächelte er, bevor er vollkommen verschwand.

June blinzelte und nahm Cole endlich wieder vollkommen wahr. „June, bitte rede mit mir! Was war da!?" June schluckte, dann schaute sie Cole eindringlich an. „Kann ich dir vertrauen?" Cole raufte sich die Haare, dann nickte er. „Ja, kannst du." Diese drei Worte drangen in Junes Kopf und sagten ihr, dass er die Wahrheit sagte.

„Ich habe einen Jungen gesehen. Er war...", sie schluckte. Cole schaute sie erwartungsvoll an. „Er war ein Geist, Cole."

Das war das Letzte was Cole erwartet hätte und dementsprechend überrascht starrte er sie an. „Das ist ein Scherz, oder?", fragte er, doch June konnte in seiner Stimme hören, dass er wusste, dass sie nicht scherzte. Trotzdem schüttelte den Kopf, um ihm auch die letzten Zweifel zu nehmen. Cole fuhr sich durch die Haare. „Wie hat der Geist ausgesehen?", fragte er, „Und seit wann kannst du sie sehen? Kann Jack das auch? Ich meine ihr seid doch beide siebzehn?"

June zögerte kurz, zog dann jedoch den Brief ihrer Mutter aus dem Buch und gab ihn Cole. „Ich vertraue dir.", sagte sie, während Cole das Papier auseinanderfaltete. „Es war ein Junge, maximal zehn Jahre alt. Es schien, als wäre seine Haut ein Meer, das sich ständig bewegt.", erzählte sie, während Cole den Brief las. Sein Blick wechselte ständig zwischen Verwunderung, Erstaunen und einem Anflug von Trauer.

„Deswegen hast du geweint?", fragte er leise. June nickte. „Ja, habe ich. Es...es macht mich einfach fertig. Ich kann nicht damit leben, dass ich nicht weiß was mit Mama passiert ist und deswegen werde ich versuchen es herauszufinden." Cole schaute sie entgeistert an. „June, die Sekte ist gefährlich. Deine Mama hat es hier selbst geschrieben. Es kann gefährlich werden."

„Das ist mir egal.", sagte June und drehte ihren Kopf so ruckartig zu Cole, dass ihre schwarzen Haare über ihre Schulter flogen. „Ich muss wissen was passiert ist und vor allem was gerade mit uns passiert." Cole gab ihr den Brief zurück. „Ich werde euch helfen.", sagte er.

„Bist du dir sicher Cole? Du hast selbst gesagt, dass es gefährlich werden könnte." Cole nickte. „Genau deswegen." June lächelte und stand auf. „Jack wird stinksauer sein, wenn er erfährt, dass du davon weißt.", gab sie zu bedenken. Cole lächelte sie an. „Ich weiß, dass er dir nicht lange böse sein kann.", meinte er. Er stand ebenfalls auf. „Dann mal los.", sagte June, „Es ist schon spät."

„Wann wirst du ihm sagen, dass ich von eurer Gabe weiß, wenn man das als Gabe bezeichnen kann und nicht als Fluch?", fragte Cole, als er und June den Weg entlang gingen und hob einen Ast an, sodass June darunter hindurch schlüpfen konnte. „Morgen früh.", sagte June, „Auch er braucht etwas Zeit für sich."

Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt