Kapitel 35

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Wie jeden Abend schloss Nora die Türen des Museums ab und machte sich auf den Weg zu ihrem nächtlichen Rundgang. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe glitt über ausgestopfte Tiere und Skelette von großen Dinosauriern.

Jede andere Person hätte dies alles als gruselig empfunden, doch Nora war es gewöhnt. Sie mochte die Stille, die nachts im Museum herrschte, wenn all die Besucher verschwunden waren.

Langsam schlenderte sie über den Flur und summte leise ein Lied vor sich hin.

Als sie an dem Saal mit der ägyptischen Ausstellung vorbeikam, die hier für einige Wochen ausgestellt war, stutzte sie. In dem Raum brannte Licht.

Hatte sie etwa vergessen es auszuschalten? Langsam schob sie die Tür ganz auf und betrat den Raum, in dem einige Särge mit Mumien und Nachbildungen der Pyramiden ausgestellt waren. Sie ließ ihren Blick über die Ausstellungsstücke schweifen. Zuerst übersah sie es, doch dann machte ihr Herz einen entsetzen Satz. Ihr Blick war fest auf einen offenen Sarg geheftet, der eigentlich hätte leer sein müssen. Doch stattdessen starrten sie zwei schwarze Augen an.

Ein Junge stand in dem Sarg, die Arme wie ein Untoter verschränkt und grinste gespenstisch. Langsam trat Nora einige Schritte zurück, den Blick immer noch auf den Jungen gerichtet.

„Wie kommst du hier rein? Und wer bist du?", hauchte sie.

Wie in Zeitlupe trat der Junge aus dem Schatten des Sarges. Nun konnte Nora die fast aschgraue Haut erkennen und die dunkelblauen Adern, die sich über sein ganzes Gesicht zogen.

„Ich will dir nichts tun.", säuselte der Junge mit einer tiefen, rauen Stimme.

Nora stieß gegen die Wand des Raumes. Ihr Atem ging rasselnd und sie war wie versteinert. Der Junge kam ihr immer näher und streckte eine Hand nach Nora aus, die ängstlich die Augen schloss, als die kalten Finger über ihre Wange strichen. Sie konnte nicht schreien und selbst wenn hätte sie keiner gehört.

Alexander Savigen zog die Frau ruckartig hinter sich her, was Nora aufschreien ließ. „Halt die Klappe!", fauchte er und riss an ihrem Handgelenk. Nora entwich ein leises Wimmern.

Er zog sie immer weiter, bis sie zu dem Eingang der stillgelegten Miene kamen, an dem sich Efeu entlanghangelte.

„Da rein!", befahl Alexander und stieß Nora in die Dunkelheit. Unkontrolliert stolperte sie einige Schritte vorwärts und wäre beinahe die morschen Holzstufen heruntergefallen.

„Was willst du von mir?", wimmerte Nora. Alexander verdrehte die Augen. Er hasste diesen Körper eines Halbstarken, pubertierenden Jungen. Diese Schwäche, die durch die Strapazen der Seelenspaltung von ihm ausging...

Er packte Nora fest an den Schultern und bohrte seine Fingernägel in ihre Haut. „Erstens redest du mich gefälligst mit 'Sie' an.", lächelte Alexander und kam Noras Gesicht mit seinem gefährlich nahe, „Und zweitens", fuhr er tonlos fort und schaute sie aus den rot unterlaufenden Augen an. Nora schluckte, als der Junge seine raue Stimme erhob. „Und zweitens sollst du die Klappe halten!", schrie er und holte mit seiner Hand zum Schlag aus. Noras Schrei hallte dumpf von den Wänden wieder, als sich der Schmerz auf ihrer Wange ausbreitete. Weitere Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie bebte und war unfähig etwas zu sagen. Genervt löste Alexander seinen Blick von der Frau und zog sie weiter. Die anderen Geiseln waren wesentlich kooperativer gewesen. Vielleicht hatte das aber auch einfach daran gelegen, dass sie nicht bei Bewusstsein gewesen waren.

Wieso verschwendete er eigentlich seine Energie damit sich über die Frau aufzuregen? Sie würde eh nicht mehr lange leben.

Nora wurde von dem Jungen immer weiter durch den, durch dicke Holzpfeiler gestützten, Gang gestoßen. Hektisch suchten ihre Augen nach irgendeinem Fluchtweg, doch es war aussichtslos. Es gab keinen weiteren Ausgang und den Weg zurück würde sie auch nicht finden. Sie waren bereits um zu viele Ecken gebogen und die Gänge sahen alle gleich aus, außerdem war es stockfinster.

Nach einer gefühlten Ewigkeit endeten die dunklen, kaum beleuchteten Gänge und die beiden traten in das Licht von verrußten Fackeln, die einen einzigen breiten Gang beleuchteten, an dessen Ende sich eine große Metalltür befand, die kurz darauf wie von Zauberhand aufschwang und den Blick in einen großen Saal freigab.

Nora wurde unsanft in den Raum gezerrt und auf den Boden gestoßen. Als sie langsam aufschaute, glitt ihr Blick an rotem Stoff entlang, bis hoch zu dem Gesicht eines alten Mannes, der hämisch grinsend auf sie hinabblickte.

„Gut...", sagte Nikolas und schaute zu Noras Entführer, „Morgen wird es soweit sein. Dann werden wir das Tor öffnen."

„und dann kann ich diesen schrecklichen Körper verlassen.", lachte Alexander, „Er ist so schwach!" Nikolas wandte den Blick ab. „Er ist mein Sohn. Er ist nicht schwach.", flüsterte er mit gesenktem Blick.

„Was war das?"

Der Mann in der roten Robe holte tief Luft und wiederholte dann mit etwas Nachdruck: „Er ist nicht schwach!"

Alexander trat hinter Nora hervor. „Er ist schwach Niko.", zischte er, „Sieh ihn dir an. Er zerfällt. Er wird es nicht überleben! Er wird sterben, wenn ich seinen Körper verlasse. Sieh es ein!"

Nikolas biss sich auf die Lippe. „Aber..."

„Du wagst es zu widersprechen Nikolas?", fauchte Noras Entführer und trat einige Schritte weiter auf den Mann in der roten Robe zu, wobei er Nora jedoch aus dem Augenwinkel beobachtete und jede noch so kleine Bewegung von ihr wahrnahm. „Er dient der Sache! Er ist ein würdiger Preis. Hast du das verstanden?"

Nikolas nickte schließlich. „Ja Vater."

Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt