Kapitel 46

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Ein kalter Windhauch fegte durch den Saal und ließ die Freunde erschaudern. Corvin hatte die Augen fest geschlossen und murmelte weiterhin die lateinischen Worte der uralten Formel vor sich hin. Schweiß rann über seine Stirn und langsam tropfte Blut aus seiner Nase, doch er hörte nicht auf. Der Wind nahm zu und begann einen Wirbelsturm um das Pentagramm herum zu bilden.

June spürte, wie etwas an ihr zog. Es war das gleiche Ziehen, dass sie an diesem einen Morgen gespürt hatte, als das alles begonnen hatte. Damals hatte sie sich die Ausmaße noch nicht einmal in ihren Träumen ausmalen können.

Krampfhaft versuchte sich June gegen dieses Gefühl zu wehren. „Lass ihn nicht in deine Gedanken eindringen. Du bist stärker als du denkst.", flüsterte sie. Ihre Mutter hatte ihr das gesagt. Immer und immer wieder murmelte June diese Worte und versuchte eine undurchdringliche Mauer um ihre Gedanken zu bauen. Doch das Ziehen ließ nicht nach. Es wurde immer stärker und raubte ihr den Atem. June keuchte und schnappte unaufhörlich nach Luft. Es funktionierte nicht. Unauslöschliche Panik kroch ihr das Rückgrat hinauf. Das Ziehen verstärkte sich erneut. June keuchte rang verzweifelt nach Luft. Neben sich hörte sie den Mann aufschreien. Er bebte am ganzen Körper und auch seine Haut begann zu leuchten und rote Brandblasen bildeten sich auf seinem Gesicht.

Junes Schmerzen waren unerträglich, doch sie konnte nicht schreien. Blut begann aus ihrem Mund zu kommen. June hustete und spuckte das dunkle Blut auf die Steine. Weiteres Blut kam aus ihrer Nase und tropfte ihre Lippe herunter. In ihren Ohren vernahm sie nur noch ein Rauschen und auf ihrem Sichtfeld bildeten sich schwarze Flecken. Krampfhaft versuchte sie bei Bewusstsein zu bleiben. Plötzlich schoss die vernebelte Gestalt von Alexander Savigen auf sie zu und stieß in sie hinein. Ein erstickter Schrei drang aus Junes Kehle, begleitet von einem weiteren Schwall Blut und ein höllischer Schmerz breitete sich in ihrem Körper aus, ausgehend von der Stelle, wo Alexander in ihren Körper drang. In der Ferne hörte sie ihre Freunde ihren Namen rufen, doch June konnte nicht reagieren. Ihre Augen drehten sich nach innen und sie brach vollständig zusammen.

Jack riss an seinen Fesseln. „June! June wehr dich! June!", schrie er immer und immer wieder. Tränen strömten über sein Gesicht. Er musste seine Schwester leiden sehen und konnte absolut nichts tun.

Mit Schrecken sah er June in sich zusammenbrechen. Durch einen Tränenschleier sah er sie reglos auf dem Boden liegen. „June!", schrie er erneut und versuchte sich weiterhin loszureißen. Hektisch tastete er den Boden hinter sich ab. Schließlich streiften seine Finger etwas Scharfes. Es war eine kleine Glasscherbe.

Jack griff danach und drehte sie zitternd in den Fingern. Langsam führte er sie an seine Fesseln und begann damit sie mit der Glasscherbe zu durchtrennen. Sein Blick war dabei starr auf seine Schwester gerichtet.

Sein Herz machte einen Sprung, als er sah, wie sich June auf einen Arm stützte und sich hochdrückte. „June! Geht es dir gut?!, rief er und versuchte seine Fesseln schneller aufzurauen. June sagte nichts. Dann hörte er Robin aufschreien. Schnell drehte er ihr den Kopf zu. Robins Augen waren schreckgeweitet. Jack folgte ihrem Blick. Auch seine Augen weiteten sich schlagartig. June hatte sich nun vollständig aufgerichtet. Nun fiel auch Jack der dunkle Schleier auf, der sie umgab.

Als seine Schwester ihm den Kopf zuwandte, stockte Jack der Atem. Junes Augen waren pechschwarz. Jack hörte sich selbst schreien, doch er wusste, dass es nichts bringen würde.

Alexander straffte die Schultern und drehte sich zu Jack. „Deine Schwester hat einen tollen Körper, das muss ich schon zugeben. Oh und sie ist stark, dass muss ich ihr lassen."

Jack spürte wie die Wut in ihm hochkochte. Fieberhaft versuchte er die Fesseln zu durchtrennen und spürte, dass er es bald geschafft hatte. „Sie Perversling!", fauchte er. Alexander ignorierte ihn jedoch, bückte sich und griff nach dem Stein. Mit funkelnden Augen betrachtete er ihn und schaute dann zu Corvin, der sich erschöpft mit den Händen auf seinen Oberschenkeln abstützte. „Mach weiter Zauberer.", lachte er. Nikolas, der hinter Corvin stand, bohrte ihm den Dolch in den Rücken. „Tu es!", sagte er und stach dem Mann noch fester in den Rücken.

Corvin stieß einen schmerzerfüllten Laut aus. Als Nikolas ihm den Dolch noch weiter in den Rücken stieß, keuchte er: „Ich mach ja schon." und breitete wieder die Arme aus. Leise murmelnd stimmte er erneut den beschwörenden Sprechgesang an. Der Geisterstein in Alexanders Hand begann zu glühen. „June! Ich weiß du bist noch da drin!", keuchte Cole, der es geschafft hatte sich gerade aufzusetzen. „Ja June. Denk an Aiden! Du hast ihn nicht aufgegeben und er wird dich auch nicht aufgeben. Wir werden dich nicht aufgeben.", hörte Jack Robins Stimme. „Aber du musst kämpfen!", stimmte auch Dean mit ein.

„June bitte!", schrie Jack unter Tränen, „Ich liebe dich! Bitte bleib bei mir!"

Corvins Gemurmel wurde lauter und auch der Geisterstein pulsierte so stark, als würde er jede Sekunde explodieren.

Jacks Augen huschten zwischen seinen Freunden und dem Geschehen hin und her. Plötzlich begann Corvin fürchterlich zu würgen, griff sich an den Hals und brach in sich zusammen. Das Pulsieren des Steins erlosch

Alexander schaute verärgert zu dem Zauberer. „Was soll das?", fauchte er.

Auf einmal schoss ein silberner Strahl an Jack vorbei und traf Alexanders Hand. Fluchend ließ er den Geisterstein fallen und rieb sich die verbrannte Stelle. Mit böse funkelnden Augen fokussierte er eine Person hinter Jack. „Fangt sie!", befahl er.

Ehe Jack sich versah, schoss ein weiterer Strahl an ihm vorbei, traf die Necromancer die auf ihn zustürmten und beförderte sie in einem hohen Bogen durch die Luft. Endlich rissen Jacks Fesseln. Er richtete sich auf und wirbelte zu der Person herum, die kurz zuvor das Ritual unterbrochen hatte. Im nächsten Moment flogen zwei weitere Necromancer an ihm vorbei und schlugen hart auf dem Boden auf. Endlich erfasste Jacks Blick die Quelle der Explosionen. Ihm stockte der Atem, als er die ältere Frau erkannte, die angestrengt eine Hand auf Corvin gerichtet hatte und ihm langsam die Luft abschnürte.

„Ayula?", stieß Jack hervor und starrte die Hexe an. Ayula nahm ihn gar nicht richtig wahr. Ihr Blick war nur traurig auf ihren Bruder gerichtet, der sie flehend ansah. „Bitte Ayula.", krächzte er, „Ich wollte das nicht, das musst du mir glauben! Ich wollte dich doch nur beschützen." Ayula schluckte. „Ich weiß Corvin.", antwortete sie mit bebender Stimme, „Und es tut mir leid."
Aus ihrer Hand schoss erneut ein silberner Strahl, der in ungeheurer Geschwindigkeit durch den Saal raste und Corvin zu Boden gehen ließ.

Robin starrte die Hexe mit offenem Mund an. „Also das habe ich jetzt nicht erwartet.", sagte sie erleichtert, „Du weißt nicht wie glücklich ich bin, dass du hier bist!" Ayula drehte ihr flüchtig den Kopf zu und schnippte mit den Fingern. Robin spürte ein kurzes Ziehen an ihren Handgelenken. Perplex starrte sie auf ihre Fesseln, die sich wie in Luft auflösten. Sie warf einen kurzen Blick auf Aiden, der immer noch bewusstlos auf dem Boden lag und dann zu Alexander, der sich nun wieder nach dem Geisterstein bückte. Robin wollte sich aufrichten und auf den Anführer zustürmen, doch eine starke Hand schloss sich um ihr Handgelenk und zog sie zurück. Ruckartig drehte sie den Kopf und schaute in die Augen von Nikolas. „Denk nicht mal dran.", zischte er und drückte ihr den Dolch an die Kehle. Robin schnappte nach Luft und versuchte sich in irgendeiner Weise aus der Umklammerung zu lösen. Ihr Blick war immer noch starr auf Alexander gerichtet, der nun die Augen schloss und etwas zu murmeln begann. In Robins Körper breitete sich kalte Angst aus. War das Ritual etwa schon beendet gewesen? War Ayula zu spät gekommen?

Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt