Eine Woche später:
Robin lehnte ihr Fahrrad gegen einen Baum und schlenderte auf das flache Ufer des Sees zu. Ihre Schulter schmerzte noch immer etwas von der Stichwunde, doch durch die Schmerzmittel, die sie im Krankenhaus erhalten hatte, wurden die Schmerzen erträglicher.
Jacks Blick war auf das Wasser gerichtet. Neben sich hörte er June seufzen. „Diese Ruhe.", murmelte sie, „Wie ich das vermisst habe." Jack drehte ihr den Kopf zu. „Und dir geht es auch wirklich wieder gut?", fragte er und musterte sie besorgt. June lächelte ihren Bruder an. „Ja, mir geht es gut Jack.", sagte sie sanft, „Wirklich."
Ihr Bruder fragte sie das jeden Tag. Jeden Tag seit dem Vorfall. Als alles vorbei und der Geisterstein zerstört war, hatten Nicole und Ayula darauf bestanden, dass June, Aiden sowie Robin sofort in ein Krankenhaus gebracht und einer gründlichen Untersuchung unterzogen wurden. Robin und June konnten noch am selben Abend nach Hause, doch Aiden musste noch einige Tage zur Beobachtung auf der Station bleiben. Die Schäden, die die Seelenspaltung in seinem Körper angerichtet hatte, hatten ihn sehr stark mitgenommen. Auch wenn Aiden sich sehr schnell davon erholte, bestand June darauf, dass er es erstmal langsam anging und Probleme weitestgehend mied. „Ich kann dich nicht noch einmal verlieren.", hatte sie geflüstert, als sie ihn an diesem Morgen im Krankenhaus besucht hatte. Aiden hatte sie nur zu sich gezogen und sie geküsst. „Wirst du nicht.", hatte er geflüstert und ihr durch die Haare gestrichen, „Ich verspreche es."
Robin schlich sich leise an die Zwillinge heran und packte June an den Schultern, die sofort zusammenzuckte und sich zu ihrer Freundin umdrehte. „Bist du wahnsinnig?", stöhnte sie. Robin lachte nur und ließ sich neben Jack ins Gras sinken, der vorsichtig einen Arm um seine Freundin legte. „Wie geht es deiner Schulter?", fragte er und strich vorsichtig über die verletzte Stelle, darauf bedacht Robin nicht wehzutun. „Scheiße.", sagte Robin lachend, „Aber es wird besser."Jack sah sie liebevoll an. „Das ist auch gut so."
„Hey Leute.", hörten die drei eine weitere Stimme rufen. Sie drehten sich in die Richtung, aus der die Stimme kam und entdeckten Cole und Dean, die händchenhaltend auf sie zukamen und sich wenig später neben ihnen ins Gras fallen ließen. Coles Wunde am Hals war beinahe verheilt und nur eine kleine Narbe erinnerte an das kalte Messer, welches ihm an die Kehle gehalten worden war.
„June."
June fuhr herum und sah Aiden auf sie zukommen. „Aiden.", rief sie und sprang auf. Sie lief auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Aiden zuckte leicht zusammen. „Entschuldige.", murmelte June und kuschelte sich an ihn, „Haben sie dich endlich entlassen?", fragte sie und löste sich von Aiden. Dieser nickte. „Ja endlich. Das Essen war schrecklich.", lachte er. June strich ihm über die Wange. Aiden war noch immer etwas blass, doch sah viel besser aus als an den vorherigen Tagen.
Glücklich verschränkte June ihre Finger mit seinen und führte sie zu ihren Freunden. Robin sprang auf und lief auf Aiden zu. Stürmisch fiel sie ihm um den Hals. „Schön, dass du da bist.", sagte sie. Cole, Dean und Jack begrüßten ihren Freund mit einem Handschlag.
June legte ihren Kopf vorsichtig auf Aidens Schulter ab. „Ich kann nicht glauben, dass es vorbei ist.", flüsterte sie und schaute verträumt auf das blau glitzernde Wasser. Aiden seufzte. June schaute ihn an. „An was denkst du?", fragte sie und schmiegte sich enger an ihn. „Es tut mir leid June." June sah ihn verständnislos an. „Was tut dir leid?"
„Ich hätte dir das alles schon früher erzählen müssen. Ich habe dich verletzt und dir wehgetan.", sagte er leise und schaute sie aus traurigen Augen an.
„Es ist nicht deine Schuld. Hör bitte auf dir Vorwürfe zu machen. Du warst nicht du selbst.", erwiderte June und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Aiden schaute wieder auf das Wasser. „Aber ich habe alles mitbekommen und ich konnte mich nicht wehren.", sagte er und wischte sich schnell eine Träne aus dem Gesicht. June legte ihre Hand auf seine. „Ich liebe dich Aiden. Und all das hier, so schrecklich es auch gewesen sein mag, hat daran nichts geändert, ok?", sagte sie liebevoll und drückte seine Hand.
Dean stupste Robin an, die mit dem Kopf auf Jacks Schoß lag. „Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt.", sagte er. Robin setzte sich auf, was Jack mit einem traurigen Seufzer quittierte. „Wofür?", fragte sie und faltete ihre Hände im Schoß. Dean fuhr sich durch die Haare. „Naja, du hast mir ja quasi das Leben gerettet.", meinte er, „Ohne dich wäre ich jetzt vielleicht nicht hier."
„Und ich wäre der traurigste Mensch der Welt.", mischte sich Cole ein und gab Dean einen Kuss auf die Wange. Robin kicherte, doch dann wurde sie ernst. „Was hätte ich sonst auch tun sollen Dean? Du bist mein Freund. Das war selbstverständlich." Dean schüttelte den Kopf. „Das war nicht selbstverständlich. Ich kann gar nicht ausdrücken wie dankbar ich bin.", sagte er und umarmte Robin.
June strich Aiden über den Rücken. „Bist du in Ordnung? Möchtest du über all das reden? Ich meine über...", sie stockte, „...über deinen Vater?"
Aiden schluckte. „Ich hatte nie einen Vater.", antwortete er kühl, „Ein richtiger Vater hätte das nie zugelassen. Er hätte nie zugelassen, dass sein Sohn in so etwas reingezogen wird. Nikolas war nie mein Vater. Es ist gut, dass er weg ist. Genauso wie mein Großvater." June drückte seine Hand fester. Langsam malte Aiden kleine Kreise mit seinem Daumen auf Junes Handrücken.
„Weiß eigentlich jemand etwas von Ayula und Nicole?", fragte Jack in die Runde. Robin schlug sich eine Hand vor die Stirn. „Das habe ich ja ganz vergessen. Ich war vorhin noch bei Ayula. Sie lässt euch schön grüßen und ich soll euch eine Nachricht von Corvin ausrichten. Er will sich entschuldigen für alles was er getan hat."
„Von ihrem Bruder, dem Zauberer, der das Ritual durchgeführt hat?", schnaubte Dean verächtlich.
Robin strafte ihm mit einem mahnenden Bick.
„Sei nicht so gemein Dean. Er will sich nur entschuldigen.", sagte Cole sanft und legte Dean eine Hand auf die Schulter. Er hat das alles nur getan, um seine Schwester zu schützen. Ich denke, jeder von uns hätte dasselbe getan."
Dean blickte zu Boden. „Du hast ja Recht.", sagte er und lächelte Cole an.
„Nicole hat mich heute Morgen noch besucht, nachdem June gegangen ist.", meldete sich Aiden zu Wort, „Sie hat mir erzählt, dass sie mit ihrer Familie wegziehen und irgendwo noch einmal komplett neu anfangen will."
June nickte verstehend. „Kann ich vollkommen nachvollziehen."
„Glaubt ihr, dass die Geisterwelt auch verschwunden ist, als Dean den Geisterstein zerstört hat?", fragte Cole in die Runde. „Was übrigens sehr mutig war.", fügte er noch leise hinzu, sodass es nur Dean hören konnte. Dieser errötete leicht.
Jack zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung."
Junes Blick schweifte gedankenverloren über die grüne Wiese, das seichte Ufer und das glitzernde Wasser. Plötzlich blieb ihr Blick an einer Frau in einem langen weißen Kleid hängen, die hinter einem der Bäume hervorlugte. Ihre schwarzen Haare wehten leicht im Wind hin und her. Es war ihre Mutter. Stolz lächelte Isabelle ihre Tochter an und ihr Blick sagte: „Das habt ihr gut gemacht." Dann begann sie sich langsam aufzulösen. Auf Junes Gesicht breitete sich ein glückliches Lächeln aus.
Aiden rüttelte sie an den Schultern. „June? Was glaubst du? Wurde die Geisterwelt auch zerstört?"
Immer noch lächelnd schüttelte June den Kopf. „Nein, nein das wurde sie nicht."
Ende
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Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020
ParanormalGewinner eines Watty Award 2020 im Genre "Paranormales" *abgeschlossen* Der Gendefekt der Familie Clairvoyance: Ein Segen oder eine Last für die Zwillinge Jack und June? Ihre Mutter hat sie vor der Dunkelheit gewarnt und auch vor Jenen, die sie beh...