Kapitel 10

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Lieber Jack, liebe June,

wenn ihr diesen Brief hier in den Händen haltet, heißt das, dass ihr nun 17 Jahre alt seid und ich nicht mehr unter den Lebenden weile. Ihr fragt euch bestimmt was das alles hier zu bedeuten hat. Es tut mir leid, dass ich euch das nicht selbst erzählen kann.

Ich habe mich mein Leben lang mit dem Übernatürlichen und unserer Rolle darin beschäftigt. Ich werde euch hier alles erzählen, was ich über unsere Blutlinie und der damit verbundenen Gabe weiß. Das Ganze basiert auf einer alten Geschichte, die vor hunderten von Jahren passiert ist. Vor hunderten von Jahren kehrte unsere Vorfahrin Mirabelle Clairvoyance nach Hause zurück. Dort fand sie ihren Ehemann tot auf. Er war im Schlaf erstochen worden. Mirabelle war voller Trauer und suchte krampfhaft nach einer Möglichkeit sich noch einmal mit ihrem Geliebten unterhalten zu können, ihn zu spüren. Also suchte sie Hilfe bei einem Magier. Sie bezahlte ihn und er verlieh ihr die Macht mit Geistern zu reden und als Medium zu dienen. Letzteres ließ zu, dass Geister mit ihrer Erlaubnis Besitz von ihr ergreifen durften. So war es ihr möglich ihren Ehemann so oft wie möglich zu sehen.

Irgendwann jedoch fand Mirabelle einen neuen Mann und bekam ein Kind von ihm. Was sie damals noch nicht wusste war, dass die Gabe vererbbar war. So hielt sich die Gabe und überdauerte Generationen. Ich besaß diese Gabe und auch ihr besitzt diese Gabe.

Ich war 17, also genau so alt wie ihr, wenn ihr diesen Brief lest, als ich angefangen habe Dinge zu sehen, die Andere nicht sahen. Ich sprach mit Personen, die längst verstorben waren. Jeder hielt mich für verrückt. Jeder außer meiner Mama. Sie hatte sich damals zu mir gesetzt und mir die Geschichte von Mirabelle Clairvoyance erzählt, die ihr jetzt bereits kennt.

Ich wurde neugierig und begann die verschiedensten Nachforschungen anzustellen. Alle meine Ergebnisse habe ich in mein Tagebuch eingetragen. Jedoch hatte ich da noch nicht gewusst in welche Schwierigkeiten ich da hineingeraten würde. Ich stieß auf eine Geheimgesellschaft, eine Sekte, die es sich zum Ziel gemacht hatte das Tor zwischen der Geister- und der Menschenwelt zu zerstören. Die Auswirkungen wären dramatisch. Milliarden von Geistern, die ihr in unserer Welt nur als ein Schatten ihrer selbst wahrnehmt, könnten sich frei bewegen. Sie könnten alles tun, was wir auch können. Arbeiten, spielen und töten. Der Sekte war nichts wichtiger als die Erlösung böser Geister, die nichts als Zerstörung bringen würden.

Ich schreibe diesen Brief, weil ich weiß, dass ich sterben werde. Ich habe nicht die Kraft mich gegen die Sekte zu wehren. Ich bin allein. Sie wollen mich benutzen, um ihr Oberhaupt zu erwecken, der dann das Tor niederreißen wird. Sie werden mich zwingen ihn in meinem Körper zu lassen, denn nur ein Geist im Körper eines Menschen kann das Tor öffnen. Ich werde nicht zulassen, dass sich das Tor öffnet. Lieber würde ich sterben.

Der einzige Weg um euch zu schützen ist, dass ich nicht hier bin, wenn sie kommen. Ich spüre, dass es bald so weit sein wird. Offiziell werdet ihr mich auf eine lange Geschäftsreise verabschieden, von der ich nicht zurückkehren werde.

Im Moment seid ihr 12 Jahre alt. Es zerbricht mir das Herz euch zu verlassen und euch nie wieder zu sehen, aber es ist besser so. Ich kann nur hoffen, dass sie nichts von eurer Existenz wissen und ihr nie in diese Geschichte verwickelt werdet.

Wenn ihr diesen Brief erhaltet, seid ihr 17 und werdet eure Gabe entdecke, aber seid gewarnt. Es birgt große Gefahren sich auf das Jenseits einzulassen.

Ich werde mein Tagebuch Maria zur Aufbewahrung geben. Sie ist die Einzige, der ich das Buch mit all meinen Forschungen anvertrauen kann.

Ich liebe euch und es zerreißt mich, dass ich euch verlassen muss. Ich werde immer bei euch sein. Passt gut auf euch auf und vertraut dem Licht.

Mama

Jack ließ den Zettel sinken. June ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder und fing leise an zu weinen und auch Jack musste schlucken, um den Klos zu vertreiben, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Aiden legte June eine Hand auf die Schulter. „Sie wusste es.", wimmerte June und schaute ihre Freunde aus roten Augen an. „Sie wusste, dass sie sterben würde.", schrie sie schon fast. Aiden schaute June an und sprach leise auf sie ein. „June, beruhige dich, bitte." June stand auf und riss sich von Aiden los. „Ich kann nicht.", schrie sie, „Unsere Mama wusste, dass sie sterben würde und hat so getan, als wäre alles in Ordnung! Sie hat uns diese Geschichte und alles andere vorenthalten! Sie hätte mit uns reden müssen.", schluchzte sie und sank auf dem Boden zusammen, das Tagebuch fest an ihre Brust gepresst. Jack wusste nicht was er sagen sollte. Auch er war aufgewühlt und wütend. Robin schaute ihn an und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Hey, alles ist in Ordnung.", flüsterte sie.

Aiden kniete sich neben June, deren Haare wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht hingen. June schluchzte leise und zitterte. Aiden nahm sie in den Arm und zog sie langsam zu sich. Er strich ihr sanft über den Rücken. „Sie wollte euch beschützen June.", flüsterte er, „Sie hat euch geliebt." June schluchzte noch immer, doch ihr Atem wurde wieder langsamer und gleichmäßiger. Dean hatte Jack den Brief aus der Hand genommen und überflog ihn nochmal. „Glaubt ihr, die Sekte existiert noch?", fragte er leise und schaute von dem Zettel auf. Robin nahm ihre Hand von Jacks Schulter und ging zu Dean. „Kann sein. Warum?", fragte sie und schaute ihrem Freund über die Schulter. Dean schaute zu den Zwillingen. „Naja, wenn sie noch existiert, könnte es sein, dass sie auch hinter euch her sind.", bemerkte Dean. Aiden schüttelte den Kopf. „Glaube ich nicht. Ihre Mama hat doch gesagt, dass sie verschwunden ist, um Jack und June zu schützen. Vielleicht wusste die Sekte gar nichts von den Beiden." Er schaute au June, die ihren Kopf nun auf seiner Schulter abgelegt und die Augen geschlossen hatte.

Jack nickte. „Wollen wir hoffen, dass sie wirklich nichts von uns weiß.", murmelte er. June öffnete die Augen und setzte sich gerade hin, was Aiden mit einem kaum hörbaren Seufzer quittierte. Sie war blass. „Alles in Ordnung June?", fragte Jack besorgt. June fasste sich an den Kopf, nickte dann aber. „Ja, ja, ich...ich muss einfach etwas allein sein.", murmelte sie und griff nach dem Tagebuch, sowie nach dem Medaillon und dem Brief, den Dean kurz zuvor wieder auf den Schreibtisch gelegt hatte. June verließ den Raum. Jack sah die Anderen an. „Ich glaube es ist besser, wenn ihr jetzt auch geht.", sagte er leise. Robin und Dean nickten und waren kurz darauf aus dem Haus verschwunden. Nur Aiden zögerte noch. „Meinst du ich sollte..." Jack schüttelte den Kopf. „Nein Aiden, das ist nett von dir und ich schätze, dass du dich um sie sorgst, aber ich kenne meine Schwester.", sagte er, „June braucht jetzt einfach etwas Zeit für sich."

Aiden nickte. „Und was ist mit dir? Kommst du klar?" Jack zuckte mit den Schultern. Er schluckte, um den Klos in seinem Hals zu vertreiben. „Ich weiß es nicht.", gab er zu und versuchte seine Tränen zurückzuhalten. Aiden legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Komm,", sagte er lächelnd, „wir gehen jetzt etwas Essen, das bringt dich auf andere Gedanken."

Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt