Neunzehn

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Nach dem seltsamen Zusammentreffen mit Noah war June durch den Gemeinschaftsraum und geradewegs in den Mädchenschlafsaal gerannt. Es war ihr viel zu peinlich Peter, geschweige denn Sirius unter die Augen zu treten. Sie würden bestimmt völlig außer sich sein, wenn sie erfuhren, dass sie nur wegen June eine saftige Strafe am Hals hatten.

Der Schlafsaal war leer bis auf zwei Mädchen, Elizabeth Green und Dora DeVander, die sie allerdings kaum beachteten. Sie warfen ihr nur einen kurzen, abwertenden Blick zu und quatschten dann weiter über irgendwelche Jungs. Seltsamerweise wurde June generell von kaum einem Mädchen in ihrem Jahrgang beachtet. Vermutlich lag es daran, dass sie hauptsächlich mit den Rumtreibern unterwegs war. Nur mit Lily  verbrachte sie ab und zu Zeit, doch da diese, im Gegensatz zu June, so ziemlich mit jedem befreundet war, geschah das nicht sehr häufig.

Sie legte sich in ihr Himmelbett, streifte Schuhe und Socken ab, zog die Vorhänge zu und schloss die Augen. Sie war plötzlich ganz schrecklich müde und erschöpft, obwohl es erst vier Uhr am Nachmittag war. Dennoch, nach nur ein paar Minuten, in denen sie dem Tuscheln und Flüstern der beiden anderen Mädchen zuhörte, schlief sie schließlich ein.

Sie träumte wirre Dinge, die keinerlei Sinn oder Zusammenhang hatten, träumte von Zuhause, ihren Eltern, von Hogwarts und irgendwo blitzte auch Noahs Gesicht hervor.
Mitten in der Nacht schreckte sie auf und war hellwach. Mit klopfendem Herzen starrte sie an die Decke und lauschte, doch alles war still. Lediglich das gleichmäßige Atmen und Schnarchen ihrer Zimmermitbewohnerinnen störte die Ruhe. Wer oder was hatte sie aufgeweckt?

Durch einen kleinen Spalt in ihrem Vorhang schien ein schmaler Streifen Mondlicht und auch, wenn kein Vollmond mehr war, strahlte er hell und klar. Hatte das Licht sie etwa geweckt? Oder hatte sie durch ihr frühes Einschlafen schon so viel geschlafen, dass ihr Körper völlig ausgeruht war? So leise wie möglich, um die anderen nicht zu wecken, schob sie den Vorhang zur Fensterseite fast vollständig auf, sodass ihr der helle Mond nun direkt ins Gesicht schien. Sie blinzelte und warf einen Blick auf ihren Wecker. Es war Zwei Uhr in der Früh. Sie schüttelte den Kopf und entschied, wieder  schlafen zu gehen oder wenigstens für ein paar Stunden zu dösen, denn später würde sie ganz bestimmt wieder müde sein.

Gerade, als sie den Vorhang wieder zuziehen wollte, sah sie draußen etwas im Augenwinkel. Sie stoppte in ihrer Bewegung und sah genauer hin. Ihr Blick galt dem Waldrand, den sie von ihrem Fenster aus besonders gut sehen konnte und der an dem hügeligen Schulgelände angrenzte. Bewegte sich da etwas im Schatten? Vielleicht ein wildes Tier aus dem verbotenen Wald? Je länger sie starrte, desto mehr Umrisse erkannte sie. Auf leisen Sohlen und mit zusammengezogenen Augenbrauen stand sie auf und lief ganz nah ans Fenster. Gespannt presste sie ihr Gesicht dagegen, um besser zu sehen.

Die Umrisse, von denen sie zuerst dachte, sie gehörten zu einem Wildtier, schienen immer schmäler und größer zu werden, bis sie die Größe eines Menschen hatten. Nun trat der Mensch aus den Schatten des Waldes und - Junes Herz schien stehen zu bleiben. Die Gestalt sah nicht aus wie ein Mensch. Es war ein Werwolf. "Remus", keuchte sie geschockt gegen das Glas, als sie die wolfartigen Züge erkannte und mit einem Mal spürte sie ihre Glieder wieder.

Wie von einer Tarantel gestochen stieß sie sich vom Fenster weg, knallte dabei gegen ihren Nachttisch und mit einem Scheppern viel ihr Wecker zu Boden. Doch das interessierte June kein bisschen. Sie raste aus dem Raum hinaus, Elizabeth Green, die schlaftrunken aus ihrem Bett lugte, und ihre Frage, was zur Hölle los sei, ignorierend. Was machte Remus dort draußen? Er lag doch im Krankenflügel! Musste er sich nochmals verwandeln? Aber es war doch nicht mehr ganzer Vollmond! Als sie barfuß aus dem Porträtloch stürmte, schrie die fette Dame schrill und erschrocken auf. "Was fällt dir ein mich so spät zu erschrecken?! Mein Herz! Bist du denn vollkommen verrückt, du Göre?!"

June rannte weiter, die Schreie des Gemäldes hörte sie gar nicht. Es schien als wäre sie taub, nur ein durchgehendes Piepsen dröhnte in ihrem Kopf. Sie rannte so schnell sie konnte, treppauf, treppab, durch alle möglichen Gänge, bis sie die Eingangstür erreichte, die scheppernd aufflog, ohne dass sie sie berührte. Sie stolperte und rutschte den, vom Tau feuchten, Erdboden hinab, landete ein paar Mal auf dem Hintern, doch stand immer wieder auf. Schweratmend blieb sie schließlich stehen und starrte den Waldrand entlang, auf die Stelle, an der sie ihren Bruder gesehen hatte, doch dort war niemand mehr. "Remus!", rief sie atemlos und es hallte laut über das Gelände, doch es gab keine Antwort.

Der Mond schien groß und weiß auf sie herab, beleuchtete die Hügel und den Wald, als wollte er June den Weg weisen. An die Gefahr, dass ihr Bruder als Werwolf vermutlich kaum Kontrolle über sich selbst hatte und sie in Sekundenschnelle töten konnte, dachte sie gar nicht, als sie den Rest des Weges hinunterstolperte und in den verbotenen Wald hineinlief. Er musste hier drin sein, wo sonst sollte er sich verstecken? "Remus?", rief sie ein weiteres Mal und quetschte sich durch Sträucher und Geäst, das ihr unsanft über das Gesicht kratzte. "Lauf nicht vor mir weg! Wo bist du?" Nur einige Meter vor ihr hörte sie ein lautes  Knacken und sie blieb stehen. "Warum bist du hier draußen? Warum hast du dich ein zweites Mal verwandelt? Geht es dir gut?"

June starrte angestrengt auf den dunklen Fleck vor ihr und versuchte Umrisse auszumachen, doch es war beinahe stockdunkel. Sie war sich jedoch sicher, dass er dort stand, nur ein paar Meter vor ihr. Warum antwortete er ihr nicht? Konnte man als Werwolfgestalt nicht sprechen? Vorsichtig ging sie weiter auf die Stelle zu, an der sie ihren Bruder vermutete. Dornen und Äste rissen ihr die Beine auf und zerrten an ihren Haaren und der Kleidung, doch sie kümmerte sich nicht darum. Noch immer konnte sie kaum etwas erkennen. Verdammt, warum hatte sie in ihrer Eile nicht an ihren Zauberstab gedacht? Dann hätte sie wenigstens etwas sehen können.

Sie war jetzt nur noch knapp zwei Meter entfernt von ihm. "Remus?", fragte sie noch einmal, diesmal leiser. Ein Winseln antwortete ihr. Er war also tatsächlich da! "Wo sind die anderen, Remus? Sirius, James und Peter? Kümmern sie sich nicht immer um dich, wenn du dich verwandelst?" Sie sprach sanft und leise, um ihn nicht zu verscheuchen und überbrückte die letzten Meter zwischen ihnen. Nun spürte sie sogar seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht und erkannte seine großen, nun tierartigen, Augen nur eine halbe Armlänge von ihr entfernt.

Remus winselte ein weiteres Mal und knurrte leise. Hatten sie ihn etwa alleine gelassen? Vorsichtig und langsam streckte sie die Hand nach ihm aus. Ihre Finger berührten dickes, kratziges Fell auf warmer fester Haut. Sachte strich sie ein Mal über seine Schnauze. Sie hatte volles Vertrauen zu ihm, er würde ihr niemals weh tun, selbst als Werwolf nicht. Er erkannte seine eigene Schwester. Sonst wäre sie doch schon längst tot, nicht wahr?

Plötzlich erstrahlte ein unglaublich helles Licht hinter ihr, sodass sie sich, als sie sich erschrocken umdrehte, die Hände vor das Gesicht halten musste. "Miss Lupin! Was, zum Merlin, ist in Sie gefahren?!" Professor McGonagall blickte sie, in einen dicken Mantel über ihrem Nachthemd gehüllt, voller Wut an, den leuchtenden Zauberstab erhoben. Rubeus Hagrid, der Wildhüter, stand direkt hinter ihr, sein Saurüde Fang, der ängstlich wimmerte, an seiner Seite. Es raschelte hinter June und sie wandte sich wieder um, doch ihr Bruder war verschwunden.

Werewolf's Sister// Rumtreiber FfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt