Fünfzehn

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June wusste es bevor sie es sah. Sie wusste was los war. Das kurze Rumpeln riss sie aus ihrem ohnehin schon unruhigen und leichten Schlaf. Sie schreckte auf und lauschte. Auf welche Geräusche sie wartete, wusste sie selbst nicht. Kein Laut ertönte mehr, doch trotzdem kletterte sie keine Sekunde später aus dem Bett und verließ den Schlafsaal. Es musste soweit sein. Durch ein großes Fenster im Gemeinschaftsraum schien die große helle Kugel herein und ließ die Schatten der Möbel merkwürdig gestreckt aussehen. Der Mond hatte etwas faszinierendes an sich, dachte sie. Es fiel ihr immer wieder schwer ihren Blick von ihm zu trennen. Ein Prickeln breitete sich auf ihren Armen aus und sie riss sich schließlich von dem anziehenden Anblick weg.

"Lumos", flüsterte sie und die Spitze ihres Zauberstabes begann zu leuchten. Sie sah sich um, doch der gesamte Raum war menschenleer. Keiner der Rumtreiber hatte ihr sagen wollen, wo sie hingingen oder wie sie Remus bei Vollmond unterstützten, weswegen June nun planlos im Gemeinschaftsraum stand. Wo würde sie einen gefährlichen Werwolf unterbringen? Bestimmt nicht in der Schule, das wäre viel zu riskant. Vielleicht draußen auf dem Schulgelände? Aber wo?

"Hey! Was machst du hier?"

June zuckte so sehr zusammen, dass sie ihren Zauberstab fallen ließ und er unter einen der großen, gemütlichen Sessel rollte. "Verdammt!", zischte sie und tastete blind und auf allen vieren auf dem Boden herum.
Im Zimmer war es nun wieder fast stockdunkel, abgesehen vom sachten Mondlicht. Plötzlich berührten ihre Finger etwas kaltes, hartes und sie stockte. Über ihr leuchtete ein kleines Licht auf und sie spürte ganz sicher die Präsenz einer Person direkt vor ihrer Nase. Langsam hob sie den Kopf.
Das Gesicht über ihr kam ihr bekannt vor. Dichte Augenbrauen, dunkle Augen, markantes Kinn, kurzes schwarzes Haar. Das war Noah McChamley, ein stiller Einzelgänger aus ihrer Klasse, den sie vorher noch nie auch nur ein Wort hatte sagen hören.

"Was machst du hier?", wiederholte er seine Frage grimmig und starrte auf sie hinab. Hastig erhob sich June und klopfte sich den Staub von den Knien. "Ich habe hier nur ...", fing sie an, doch sie konnte den Satz nicht beenden, so sehr sie sich auch anstrengte. "Ich könnte dich dasselbe fragen." Sie entschied sich für die Abwehrtaktik. Er sah noch immer auf sie hinab, da er mindestens einen Kopf größer war als June. "Ich habe Geräusche gehört. Warst du das?" Seine Stimme klang abweisend, fast schon gelangweilt, als wüsste er die Antwort schon, doch wollte wissen, wie sehr sie sich beim Lügen zum Affen machte. "Ja. Ich habe hier heute Nachmittag etwas vergessen und wollte es holen." "Mitten in der Nacht?" "Genau." Seine rechte Augenbraue hob sich kaum merklich, was ihm, wie June innerlich zugeben musste, ziemlich viel Ausdruck verlieh. Trotzig reckte sie ein wenig das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Wärst du nun so nett und würdest mir nicht direkt in die Augen strahlen?", fragte sie leicht genervt und blinzelte dem hellen Licht entgegen. Das Licht blieb wo es war.
"Oder mir aus dem Weg gehen?"
Auch Noah McChamley blieb wo er war. Ein Frösteln breitete sich in Junes Nacken aus bei seinem Schweigen und harten Starren. Unauffällig trat sie einen kleinen Schritt zurück, doch stieß gegen einen Beistelltisch, auf dem ein Kerzenständer gefährlich zu wackeln begann.

"Du bist June Lupin, nicht wahr? Remus Zwillingsschwester", fragte er schließlich mit einem seltsamen Unterton, der sie nur noch nervöser machte. "Habe schon viel von dir gehört", redete er weiter und ging einen Schritt auf sie zu. Das helle Licht aus der Spitze seines Zauberstabes blendete sie noch immer und sie musste die Augen zusammenkneifen. "Hoffentlich nur Gutes", antwortete sie scherzhaft, um sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Noah antwortete nicht, sondern blickte sie nur an. Einen Moment lieferten sie sich ein stilles Blickduell, wobei sein Blick hart und undefinierbar war, Junes jedoch verunsichert und nervös. Dann trat er plötzlich zur Seite und wandte den Blick ab. Zögernd und etwas misstrauisch schritt June auf ihn zu und erwartete schon von ihm gepackt zu werden, doch er ließ sie schweigend passieren. Dann verlor sie keine Zeit mehr und eilte in den Schlafsaal zurück.

Noch lange danach lag sie wach im Bett und bekam kein Auge zu. Remus und McChamley spukten ihr die ganze Zeit im Kopf herum, doch sie traute sich nicht nochmal aufzustehen und nach ihrem Bruder zu suchen. Bis die Sonne aufging verbrachte sie in einem Halb-wach-halb-schlafend-Zustand und schreckte auf, als sich die ersten Mädchen für das Frühstück zurecht machten.

Beim Frühstück setzte sie sich wie immer zu den Rumtreibern, doch sie bemerkte, dass einer fehlte. "Wo ist Remus?", fragte sie in die Runde und ließ sich erschöpft und müde gegenüber von Sirius nieder. "Der ruht sich aus", nuschelte dieser mit einem Mund voll Speck. "Wie geht es ihm?" Sie rieb sich die Schläfen, durch den Schlafmangel hatte sie höllische Kopfschmerzen bekommen. Sirius wiegte den Kopf hin und her. "So wie es einem eben geht, nachdem man ... naja, du weißt schon." Er bemerkte ihr unzufriedenes Gesicht. "Wir gehen ihn in der Mittagspause besuchen." "Besuchen?" "Er liegt im Krankenflügel", klinkte sich nun James in das Gespräch ein. June wollte noch weiter fragen, doch da erschien Lily an James Seite und die Gruppe wechselte das Thema. Lily und James hatten ihr erstes Date schon hinter sich und anscheinend war es sehr gut verlaufen. Sie waren noch kein Paar, doch jeder sah, dass sie sich von Tag zu Tag besser verstanden. Es war also nur eine Frage der Zeit.

Nach dem Frühstück eilten sie zu Verwandlung. In dem Moment, in dem June sich auf ihren Stuhl niederließ, stieß jemand gegen ihren Tisch und ein Gegenstand rollte ihr darauf entgegen. Erschrocken sah sie der Person hinterher.  Noah McChamley. Er würdigte sie keines Blickes und pflanzte sich wie immer auf die hinterste Bank. Nun sah sie auf den Gegenstand auf ihrem Tisch und machte einen leisen, verwunderten Laut. Wie hatte sie den nur vergessen können?
Vor ihr lag ihr Zauberstab.

Werewolf's Sister// Rumtreiber FfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt