Siebenundzwanzig

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In einem rhythmischen, gleichmäßigen Prasseln wurde der Regen gegen ihr Fenster geweht. Hin und wieder wurde das Prasseln leiser, kurz darauf wieder lauter, je nach dem wie stark der Wind blies. Früher, bevor sie nach Hogwarts gekommen war, hatte sie dieses Geräusch als entspannend empfunden. Es war ihr kleiner Anker gewesen, der sie daran erinnerte, wie geschützt und geborgen sie in ihrem Heim war. Nun erinnerte es sie nur daran, wie sie diese vier Wände, die einst ihr sicheres Zuhause waren, von der Außenwelt abschirmten und gefangen hielten, sie in sich verschlossen.

June war seit fünf Tagen wieder zuhause bei ihren Eltern. Es waren die schlimmsten fünf Tage ihres Lebens gewesen. Ihre Eltern umschwirrten sie noch mehr als zuvor, wie lästige Fliegen wollten sie immer um sie herum sein, sprachen mit ihr in einer überaus freundlichen, zuckersüßen Stimme, wollten, dass es ihr an nichts fehlte. Doch sie war nun auch viel eingeschränkter als zuvor. June durfte das Fenster nicht mehr öffnen, wenn sie alleine in ihrem Zimmer war, durfte die Badezimmertür nicht abschließen und im dreißig Minuten Takt lugte einer ihrer Eltern durch den Türspalt, wenn sie sich in ihr Zimmer verzogen hatte. Das alles hätte ihr viel mehr ausgemacht, wenn sie mal etwas anderes als dieses taube Gefühl in ihrem Körper gespürt hätte. Sie aß kaum, hatte kein Hungergefühl mehr, aß nur um ihrer Eltern willen und um nicht zu verhungern.

Remus lag seit ihrer Ankunft im St.-Mungo-Hospital, doch war bisher nicht aufgewacht. June bettelte jeden Tag darum, ihn zu besuchen, doch ihre Eltern verwehrten es. Vermutlich ertrugen sie den Anblick ihres Sohnes nicht. Der Angriff auf Remus wurde unter dem Dach der Lupins auch niemals angesprochen, hin und wieder sah June ihre Eltern miteinander flüstern, doch sie verstummten sofort sobald sie sie erblickten und lächelten sie mit einem "Alles in Ordnung, June-Schätzchen?" auf den Lippen an.

June war sich sicher, dass sie ihr etwas verheimlichten. Wussten Sie etwas über Remus Angriff? Sie verhielten sich so seltsam seit dem Vorfall, sie taten fast so, als wäre gar nichts passiert. Allerdings hatte June des Öfteren beobachtet, dass ihre Eltern sehr viel schreckhafter waren als zuvor. Ihre Mutter war schon immer ein vorsichtiger und zittriger Typ gewesen, doch nun zuckte sie sogar so stark zusammen, wenn sie draußen ein Auto hörte, dass ihr schon die ein oder andere Tasse zerschellt war. Sie überspielte dies jedes Mal mit einem nervösen Lachen.

Am Morgen des sechsten Tages hatte June die Nase voll. Sie saßen gerade, wie so oft seit June sich erinnern konnte, zu dritt am Frühstückstisch. Ihr Vater hatte das Gesicht hinter der Zeitung verborgen, ihre Mutter schaufelte kleine Löffelchen Zucker in ihren Kaffee. June sah die beiden einige Augenblicke durchdringend an,  während sie ihren unangebissenen Toast in ihrer Hand hin und her drehte. Wie jeden Tag seit sie wieder daheim war, hatte sie keinen Hunger.

Sie räusperte sich leise. Obwohl das Geräusch nicht lauter war als ein Flüstern, zuckte ihre Mutter so sehr zusammen, dass ihr der Löffel aus der Hand flog und der ganze Zucker auf die Tischdecke rieselte. Ihr Vater riss die Zeitung herunter und starrte seine Tochter mit vor Schreck geweiteten Augen an. Verwirrt blickte June zwischen den beiden hin und her, während ihre Mutter leise kicherte und etwas unverständliches murmelte, während sie den verstreuten Zucker mit der Hand auffegte.

"Ehm ... entschuldigt", meinte June.
"Wirst du etwa krank, Schätzchen?", fragte Mr Lupin und beäugte seine Tochter so besorgt, als hätte sie Blut auf den Tisch gehustet. Mrs Lupins Blick schnellte aufmerksam nach oben. June schüttelte leicht den Kopf. "Nein, ich ..." "Du siehst tatsächlich sehr blass aus heute. Vielleicht sollten wir Dr. Dogget anrufen und sie untersuchen lassen, was meinst du, Lyall?" Mrs Lupin sah ihren Mann mit zusammengezogenen Augenbrauen an. "Ich will -", fing June erneut an, diesmal etwas ungeduldiger, doch ihr Vater unterbrach sie, als hätte sie gar nichts gesagt. "Hmm. Gegessen hat sie auch nichts. Vielleicht wäre das keine schlechte Idee."

"Ich brauche keinen Arzt!", fuhr June sie an. Verdutzt blickten die beiden zu ihrer aufgebrachten Tochter. "Was ist denn los, Liebling?", fragte Mrs Lupin mit einer so süßen und besorgten Stimme, dass June noch wütender wurde. "Euer Sohn liegt im Koma und ihr wollt nicht zu ihm. Das ist los", fauchte June.

Tiefes Schweigen herrschte. Bisher hatte niemand dieses Thema so direkt angesprochen, doch June reichte es. Mrs Lupin presste ihre Lippen zusammen, wagte einen zaghaften Blick zu ihrem Mann, der seine Brille richtete und die Zeitung etwas zu ordentlich zusammenlegte.

"Ich will zu ihm", sagte June laut und klar. "Mit oder ohne euch." Mrs Lupin zwang sich ihr alltägliches Lächeln auf die Lippen. "June ..." "Ich will zu meinem Bruder", presste sie hervor, bemüht sich zu beherrschen.
"Ich werde ihn nicht im Stich lassen wie seine eigenen Eltern!"
"June!", nahm Mr Lupin nun das Wort in die Hand und sah sie streng an. "Wir lassen ihn nicht im Stich." "Ach ja?", fragte June und zerquetschte den Toast in ihrer Hand. "Wie nennt ihr es denn dann? Ihr besucht ihn nicht, ja, ihr redet nicht mal über ihn! Ihr tut so als gäbe es ihn nicht!" "Hör auf! Du weißt gar nicht wovon du redest!", polterte ihr Vater. "Ich weiß also nicht wovon ich rede? Ich habe Augen im Kopf, Dad! Ihr behandelt mich wie ein rohes Ei, während euer Sohn halbtot um sein Leben kämpft! Und ich kann nichtmal bei ihm sein, weil ihr es nicht zulasst!" Vor Wut traten June Tränen in die Augen. Alles was sie wollte war ihrem Bruder beizustehen.

"Schätzchen ...", fing ihre Mutter an und legte eine Hand auf ihren Arm, doch June zog ihn energisch weg. "Lass das, Mum! Ich kann es nicht mehr hören." Mrs Lupin zog ihre Hand zurück und sah zu ihrem Ehemann. "Lyall ... ich denke wir sollten es ihr sagen."
"Mir was sagen?" 
Mr Lupin schüttelte bestimmt den Kopf. "Nein. Auf gar keinen Fall." "Aber-"
"Hope. Wenn wir es ihr sagen, wird er es herausfinden. Sie wäre dann in noch größerer Gefahr als zuvor."
"Mir was sagen?!"
"Nichts, vergiss es, June."

June ballte wütend die Fäuste, sodass ihr Toast nun vollends zerkrümelte. "Lasst mich endlich wissen, was los ist! Ich habe es so satt immer die zu sein, die von nichts eine Ahnung hat!" Nun baute sich ihr Vater vor ihr auf, er erhob sich. Instinktiv zog June den Kopf ein wenig ein. "Du solltest uns dankbar dafür sein, dass wir dir nichts darüber sagen, denn sonst könntest du nachts gar nicht schlafen! Und jetzt geh nach oben und komm erst wieder runter, wenn du uns respektierst!"

Nun erhob sich June ebenfalls. Wütend ließ sie die Toastreste, die sich noch in ihrer Hand befanden, auf den Teller fallen. "Wisst ihr, ich kann wirklich verstehen, warum Remus lieber in Hogwarts war, als hier!" Mit diesen Worten stürmte sie aus der Küche und trampelte die Treppe hinauf. Mit Wucht riss sie ihre Zimmertür auf und ließ sie laut zuknallen. Eine Stimme hinter ihr, ließ sie aufschreien.

"Reiß mir bitte nicht den Kopf ab, aber ich muss mit dir reden."

Werewolf's Sister// Rumtreiber FfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt