Achtzehn

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"Madame Pomfrey?", fragte sie, als sie zögerlich die schwere Tür zum Krankenflügel öffnete. Die kleine ältere Dame steckte den Kopf hinter dem Vorhang ihres Bruders hervor. "Komm rein", meinte sie mit einen miesgelauten Blick und verschwand dann wieder hinter dem Stück Stoff. "Ich habe ihm was zum schlafen gegeben. Das Ohr sollte in ein paar Stunden wieder vollständig nachgewachsen sein." Man hörte ein Klappern und Klimpern und June trat durch die Tür. Unschlüssig stand sie nun im Raum herum. Wie sollte sie anfangen? Was sollte sie sagen?

Madame Pomfrey kam hinter dem Vorhang wieder hervor, eine kleine silberne Schale in der einen Hand und ein Tuch in der anderen. "Bist du hier, um auszubaden, was dein kindischer Freund veranstaltet hat?", wollte sie wissen, es klang schon fast spöttisch. Sie ging geradewegs an ihr vorbei in ihr Büro. Sie ließ die Tür geöffnet, was June als Forderung sah, ihr zu folgen.

"Nun ... ja. Doch ich möchte mich auch für mein Verhalten entschuldigen, ich hätte nicht lachen sollen", sagte sie, als sie den Raum betrat. Neugierig sah sie sich um. Sie war bisher noch nie in den Räumlichkeiten eines Erwachsenen in Hogwarts gewesen. Madame Pomfreys Büro war klein und vollgestopft mit allerlei Dinge. Mit Büchern und Flaschen in den verschiedensten Größen und Farben zum Bersten gefüllte Regale bedeckten jede Wand, in der Mitte stand ein kleiner Schreibtisch und eine schmale Tür zu ihrer linken führte wohl in die privaten Räume der Krankenschwester.

"Keine Sorge, ich bin schon lange genug auf dieser Schule, um zu wissen, wie Kinder in eurem Alter sind und dass das noch eines der harmlosesten Dinge gewesen ist, die ihr macht", meinte Madame Pomfrey und räumte in einem der vielen Regale herum. June trat etwas beschämt von einem Fuß auf den anderen. "Wir werden also nicht bestraft?", fragte sie kleinlaut. "Oh, eigentlich wollte ich das Thema ruhen lassen, doch jetzt, da du es ansprichst ... ", entgegnete Madame Pomfrey und lächelte amüsiert.

Zum zweiten Mal an diesem Tag rutschte June das Herz in die Hose. Sie hätte es wie Sirius handhaben sollen ... Nein! Sie tat das Richtige. Fehler mussten eben bereinigt werden. "Ich werde euch über eure Strafe benachrichtigen." Madame Pomfrey wandte sich wieder ab und wedelte kurz mit der Hand. June nahm es als Zeichen, dass sie nun gehen konnte.

Niedergeschlagen verließ sie den Krankenflügel. Da wollte sie ein Mal das Richtige tun und machte es am Ende doch nur schlimmer. Wäre sie Peter und Sirius einfach gefolgt, hätte Madame Pomfrey die Sache vergessen. Nun dachte sie sich bestimmt eine besonders schlimme Strafe für die drei Jugendlichen aus.
Was kam als Strafe eigentlich infrage? Womit bestrafte man Schüler am besten? June hatte bisher noch nie eine Strafe bekommen, woher denn auch? Ihre Eltern hatten ihre Kinder nie mit Strafen erzogen. Doch über Bestrafungen hatte sie gelesen. Sklaven wurden mit Peitschenhieben bestraft und kleine Kinder wurden ohne Abendessen zu Bett geschickt, allerdings waren dies nur Erzählungen und Geschichten.

Hartnäckig versuchte June den Gedanken, dass in jeder Erzählung auch ein Fünkchen Wahrheit steckte, zu verdrängen. Madame Pomfrey war bestimmt nicht so altmodisch, dass sie sie mit Schmerzen oder leeren Mägen bestrafen wollte. Oder doch? Schließlich drohte Mr. Filch auch jedes Mal mit seinen Handketten, wenn James und Sirius Dummheiten anstellten. Gedankenverloren schüttelte June den Kopf, als sie gegen etwas stieß. Nun ja, eher gesagt gegen jemanden.
"Entschuldigung", murmelte sie erschrocken und blickte auf.

Noah McChamleys dunkle Augen sahen auf sie herab. Natürlich, wer sonst. Augenblicklich spannte June sich an, dieser Kerl war ihr nicht geheuer. Schnell ließ sie ihren Blick durch den Gang huschen und was sie sah, verlangsamte ihren Herzschlag nicht gerade. Sie sah niemanden. Sie waren ganz allein. Kurz herrschte Stille zwischen ihnen und June war unfähig sich zu bewegen. Durch den Zusammenprall standen sie eng beieinander, zu eng. "Du stehst auf meinem Fuß", hörte sie seine Stimme direkt über ihrem Kopf. "Entschuldigung",  brachte sie zum zweiten Mal hervor und ging einen Schritt zurück, mehr vermochten ihre Beine nicht zu tun.

Was war nur mit ihrem Körper los? June spürte wie ihr Kopf rot anlief und sie wich seinem Blick aus. Warum ging er nicht? "Geht es Remus gut?", fragte er plötzlich und ihr Kopf schnellte nach oben, sodass sie ein schmerzhaftes Ziehen im Nacken verspürte. "Wie bitte?", würgte sie hervor und ignorierte den Schmerz. Wie kam er nun auf Remus? Wusste er Bescheid? Hatte er eine Ahnung? Spionierte er sie aus?
"Du siehst nicht glücklich aus. Da du und dein Bruder eine enge Bindung zu haben scheint, dachte ich, es könnte mit ihm zutun haben", meinte er und zuckte mit den Achseln, als er weg sah. "Er wirkte nicht besonders fit in den letzten Tagen ...", murmelte er.

War das etwa Verlegenheit, was sie aus seiner Stimme heraushörte? Etwas perplex strich sie sich eine hellbraune Strähne aus dem Gesicht. "Er ... Ja. Nein ... ihm geht es ... Naja er liegt im Krankenflügel", stotterte sie. War sie nun nicht einmal fähig zu reden? Noah sah sie wieder an und nickte. "Stimmt, das hat Lily Evans schon erzählt." "Lily? Warum-" "Ein paar Leute aus unserer Klasse haben nach ihm gefragt, ich habe mitgehört. Es fällt auf, dass er ziemlich oft krank ist." Seine Stimme klang merkwürdig. Als würde er sie dazu drängen wollen, zu beichten, was er eigentlich schon längst wusste.

June traten aus irgendeinem Grund plötzlich Tränen in die Augen, doch sie riss sich zusammen. "Er hat ein schwaches Immunsystem, bekommt andauernd eine Erkältung oder Grippe."
Der Schulstress, ihre erste Strafarbeit, der Streit mit Sirius und  die Erinnerung an Remus Problem waren gerade einfach zu viel für sie.
Sie holte tief Luft, damit ihre Stimme nicht zittrig klang und blinzelte die aufkommenden Tränen weg. "Allerdings geht das keinen von euch anderen etwas an, also lasst meinen Bruder einfach in Ruhe."

Es herrschte angespannte Stille zwischen den beiden, in der Noah sie ruhig ansah und June zu Boden starrte, damit er ihre wässrigen Augen nicht sah.
Verdammt, sie hatte doch sonst auch immer ein dickeres Fell! Doch in Noahs Nähe fühlte sie sich so schutzlos und verunsichert.

"Und dir?", fragte er in das kurze Schweigen hinein. June hob wieder den Kopf. Schienen seine Augen sanfter als sonst? Ein heller Sonnenstrahl schien plötzlich von der Nachmittagssonne durch das Fenster neben ihnen und beleuchtete eine Hälfte seines Gesichts und June bemerkte, dass seine Augen gar nicht so dunkle Löcher waren, wie sie angenommen hatte. Sie entdeckte hellgraue Sprinkler in ihnen und eine feine Daumenlange Narbe unter seinem linken Auge.

Eine unerwartete Gänsehaut überschüttete sie plötzlich und riss sie aus ihrem Starren. Sie sah wieder weg. "Was soll mit mir sein?", brummte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. "Geht es dir gut, June?", fragte er und zuckte kurz mit der Hand, als wollte er sie berühren, doch dann schob er sie in seine Umhangtasche.

Eine so sanfte und freundliche Frage hatte sie von dem stillen und immer für sich sitzenden Jungen nicht erwartet. "Du weinst." June zuckte zusammen und wischte sich grob über die Augen. Tatsächlich. Ihre Wangen waren nass. Sie hatte es gar nicht bemerkt. Oh, Merlin, was war nur los mit ihr? So ein Gefühlschaos. Das musste an dem ganzen Trubel liegen, an ihrem Heimweh bestimmt auch. Außerdem hatte sie ihre Tage! Da wurde man schon mal emotional.

"Tu ich nicht. Mir geht's super, danke", brachte sie energisch hervor und quetschte sich an ihm vorbei, sodass er einen Schritt nach hinten stolperte. Schneller als nötig lief sie in den Gemeinschaftsraum, Noahs undefinierbaren Blick im Rücken spürend.

*

Was haltet ihr bisher von Noah? :)

Werewolf's Sister// Rumtreiber FfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt