Zu spät

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"Würdest du für mich sterben?" Große und flehende Augen sehen mich an und ich springe einen Schritt zurück. Die Hände abwehrend erhoben. "Wuat? No! Nicht schon wieder!", zische ich und sehe sie dann wütend an. "Weißt du, was das letzte mal passiert ist? Du meintest, dass du kein Foto machst! Und was war? Das war dann auf Insta gepostet, du Vollidiot!" Schuldbewusst verzieht Ronja ihr Gesicht, blickt auf die Seite und legt eine Hand auf ihren Hinterkopf. "Aber... es war mehr als nur geil, WIE du gestorben bist... Du kannst doch echt nicht sauer sein... Und immerhin hatte ich kein Video davon, wie du ausgerastet bist!", erwidert sie und ich ziehe meine Augenbrauen hoch. "Wäre ja NOCH geiler gewesen, was?"

Seufzend streiche ich mir durch meine blau gefärbten kurzen Haare und schüttle dann meinen Kopf. "Kein Spiel der Welt ist es wert, meinen Momentanen Spielstand für eine Idee von dir zu opfern, von der du keine Ahnung hast, ob sie funktioniert." Wäre es wenigstens ein Game, bei dem man selbst speichert. Aber ein online-MMORPG ist nun einmal eine Plattform, bei der man so etwas nicht machen kann. Mit dem geschulterten Rucksack gehe ich noch einen Schritt nach hinten und seufze. "Aber ich muss los. Mein Dad holt mich gleich ab." Schnell ziehe ich das Handy aus meiner Jackentasche und sehe auf die Uhrzeit. Vier Minuten nach der ausgemachten Zeit. "Fuck. Oder er IST schon da und macht mir nachher noch die Hölle heiß!"

Ich hebe meinen Kopf und grinse die blondhaarige an, welche eine meiner besten Freundinnen ist. Zumindest von ihrer Seite aus. Unser einziger Kontakt ist die Berufsschule, in der ich bin. Und eben das ein oder andere Game, wenn ich in meinem Zimmer hocke. So wirklich Besuch empfangen wird nicht. Hat auch so seine Gründe. "Also gut... Heute Abend über Discord?", fragt sie und ich schüttle den Kopf. "Du weißt, was mein Dad davon hält. Und außerdem muss ich jetzt wirklich los!", rufe ich, hebe verabschiedend meine Hand, drehe mich um und laufe vom Schulgelände herunter. Der Rucksack auf meinem Rücken ist unangenehm und schlägt bei jedem aufkommen meiner Füße hin und her. 

So schnell es geht, renne ich den Fußgängerweg entlang und über die ein oder andere Straße. Fuck... Scheiße! Ich komme wirklich noch zu spät! Noch über den letzten Zebrastreifen, auf welchem ich jemanden zu einer Notbremsung bringe und ein Hupen mir in meinen Ohren klingelt, erreiche ich den Kieselweg, der von der Straße in den Wald führt. Vorsätzlich schalte ich mein Handy aus und verlangsame meine Geschwindigkeit zu einem normalen gehen. Die Vögel, welche normalerweise so fröhlich vor sich hin pfeifen, sind still. Man könnte meinen, dass es kälter als normal ist. An sich herrschen frühlingshafte 26° Celsius! Aber gefühlt sind es 10. Wenn es hoch kommt.

Es geht immer tiefer in den Wald, ehe ich ein bestimmtes Klopfen in meinem Kopf spüre. Tief durchatmend, schlage ich mich von dem nun kleinen Trampelpfad in die Wildnis und achte auf meine Füße. Das Moos ist trügerisch und kann so manche Fallen beinhalten. Die Äste knacken unter meinen Schuhen und übrig gebliebenes Laub vom Winter raschelt noch ein wenig. An sich ist es nämlich erst Frühling. Auch, wenn es schon so heiß ist. Meine Augen wandern hin und her und sehen bald das, was ich zu finden ersuche. Noch tiefer ging es nicht, oder wie? Ein wenig grummelnd, gehe ich darauf zu und versuche nicht einmal, leise zu sein. Gehört werden würde ich so oder so. Also kein Grund, still zu sein. 

"Du bist zu spät. Fast hätte er mich los geschickt.", brummt Tim und ich bleibe seufzend stehen. "Sorry. Hatte ne Quasselstrippe am Hals. Meine Schuld.", erwidere ich emotionslos und sehe ihm durch seine weiß-schwarze Maske in die Augen. Kurzes Schweigen, ehe ich meinen Kopf in den Nacken lege und zu Slendy hoch sehe. "Hey! Danke für's abholen!", rufe ich ihm zu und grinse ihm entgegen, ehe ich eine Hand auf meinem Kopf spüre. Du bist eine der meinen. Wenn ich dir Erlaube, deine Ausbildung zuende zu machen, erwarte ich Pünktlichkeit! Der Druck seiner Finger um meinen Kopf wird immer stärker und ich schließe meine Augen. Muss es irgendwie aushalten. "Ist gut... Ich hab's verstanden, Boss.", brumme ich und langsam aber sicher wird es wirklich schmerzhaft. "H-Hey! Ich hab gesagt, ich hab's verstanden! Noch stärker und du kannst dir deinen vierten Proxy in die nicht vorhandenen Haare schmieren!", rufe ich nun mit einer Mischung aus Besorgnis und Gereiztheit.

Einen Augenblick lang habe ich noch die Angst, dass mein Kopf in den nächsten Sekunden platzt wie eine Wassermelone mit Gummibändern drum herum gespannt! Doch der Druck wird leichter und verschwindet komplett. Tim schüttelt nur seinen Kopf und Slendy teleportiert uns zurück in die Villa. Bevor der große Mann verschwindet, halte ich ihn noch an seinem Anzugärmel fest und er bleibt stehen. Gibt es noch etwas? "Die Lehrer wollten dich zu nem Vier-Augen-Gespräch einladen. Hab gesagt, dass das nicht geht. Deswegen sollst du das hier durchlesen.", erwidere ich nur, stelle meinen Rucksack auf den Boden, hole einen Zettel raus und gebe ihm meinem Boss. "Du bist mein Arbeitgeber UND Vaterersatz. Also musst du das so oder so unterschreiben."

In Kurzfassung steht auf dem Blatt Papier nichts anderes, als dass ich mit meinen Noten doch die Ausbildung verkürzen und an den Abschlussprüfungen in ein paar Monaten teilnehmen könnte. Und es von der Schule auch ganz dringend geraten wird, da ich mich sichtlich langweile und ich unterfordert sei. Es braucht seine Zeit, bis er das durchgelesen hat und ich schließe meinen Rucksack wieder. Ich arbeite als Arzthelferin. Oder habe meine Ausbildung dahingehend angefangen, bevor ich komplett verrückt geworden bin und mit Gift meine Familie und mich dann selbst umbringen wollte. Bis heute glaubt man, dass es irgend jemand anders war und ich die glückliche eine bin, die überleben konnte. Wurde im Krankenhaus aufgepäppelt und irgendwie kam ER dann auf mich. Hat mir einiges erspart.

Wie er das mit den Behörden und allem geregelt hat... ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich nun bei ihm wohne und da ich zu dem Zeitpunkt 18 war, habe ich auch keine Einverständniserklärung gebraucht. Von wem. Meinen toten Eltern? Meinen toten Brüdern? Genau. Durch den Giftanschlag, bei dem ich mich auch umbringen wollte, blieben als einziges meine Geschmacksknospen auf der Strecke. Heißt, dass ich nichts mehr schmecken kann. Riechen schon, aber schmecken ist überhaupt nicht mehr drin. Meine Speiseröhre ist zwar ziemlich angegriffen gewesen, aber die hat EJ mit ein paar Mittelchen und mit viel Heilungszeit wieder auf den Damm gebracht. Hin und wieder höre ich die Stimmen. Die mir damals alles vorgeschlagen haben. Aber sie sind leiser geworden, seitdem ich hier bin. Bei den Creepypastas.

The 4th ProxyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt