Überraschung

130 15 0
                                    

Mein Atem wird ruhig und meine Augen schmal. So. Und was jetzt? Ein Gedanke kommt mir. Und irgendwie ist er nicht mehr so furchteinflößend. So böse. So selbstsüchtig. "Komm. Erschieß mich. Hau mich aus diesem scheiß Leben raus. Drück ab.", flüstere ich und nehme die Klinge von dem Hals. Schließe meine Augen und entspanne mich. Das ist doch eigentlich die perfekte Möglichkeit, zu sterben. Niemand da, der stören könnte. Alles hinter mich lassend. Einfach nur aus dieser Welt scheiden. Ich lächle sogar leicht und ich spüre, wie mir Tränen die Wangen hinunter laufen. Tränen der Erleichterung, dass alles endlich vorbei sein könnte. Wenn die Person nur endlich abdrücken würde. Auf was wartet sie noch? Ich will doch nur hier weg... Ich habe zu viel scheiße gebaut. Ich habe meine Familie umgebracht. Die Stimmen in meinem Kopf rufen durcheinander. Gründe, wieso ich sterben will. Familie. Freunde. Herz. Schule. Arbeit.

"Alex...?" Die Stimme kommt mir bekannt vor und der Lauf verschwindet von meiner Stirn. Mit großen Augen richte ich mich auf. Nein. Nein, nein, nein! Ich muss nach hinten rutschen, als die Person sich aufrichtet und sitze nun auf Oberschenkeln. Bevor ich mein Handy rausholen kann, damit der helle Bildschirm Licht ins dunkle bringen kann, ertönt ein Klicken und die Flamme eines Feuerzeuges erhellt genug, dass ich erst einmal einen kleinen Schock habe. Brian. Ohne Maske. Nur mit dem Hoody. Ich sehe von ihm weg. Sitze immer noch auf ihm. "Ich... Ich muss wieder zurück.", murmle ich und will aufstehen, als das Licht verwindet und ich an ihn gedrückt werde. Es ist falsch. Aber richtig. Ich kann es nicht sagen. Keinen Millimeter bewege ich mich. Spüre nur die Arme auf meinem Rücken. Sein Kopf an meinem.

Als ich wieder losgelassen werde, kann ich seinen Ausdruck nicht sehen. Will ich das überhaupt? "Es tut mir alles so leid... Ich bin an allem schuld. Ich hätte damals was sagen sollen." Versucht er sich gerade zu entschuldigen? Ist das sein Ernst...? "Brian, hör mir zu. Ich bin seit mehr als eineinhalb Jahren in dich verknallt. Du hast mir zwei Mal das Herz gebrochen. Einmal unbewusst, als das Beziehungsspiel beendet wurde. Und einmal als du meintest, dass du noch betrunken wärst. Du hast mir mehr als nur weh getan." Er bleibt stumm, während ich das Handy aus meiner Jackentasche ziehe, die Taschenlampe anmache und das Handy so hinlege, dass die Lampe nach oben zeigt und uns ein wenig anleuchtet. Sein Gesicht... es sieht so voller Schmerz aus. So, wie ich mich die ganze Zeit fühle.

"Du hättest mich erschießen sollen. Ich habe meine Familie umgebracht. Wollte mich umbringen. Ich hab nur einen kleinen Schaden davongetragen. Ich kann seit nun fast zwei Jahren nichts mehr schmecken. Du könntest mir Gülle hinstellen. Solange ich es nicht rieche, würde ich es trinken. Ich hatte Freunde, zu denen ich erst wieder Kontakt aufbauen muss, weil ich mich so zurück gezogen habe. Ich hatte jemanden, den ich geliebt habe. Aber derjenige hat mich so verletzt, dass das hier..." Ich lege eine Hand auf meine Brust. Dort, wo mein Herz liegt. "Wahrscheinlich nie wieder heilen wird. Der Boss hat sich mehr über meinen Abschluss gefreut als ich. Ich..." Tief atme ich ein und aus. "Du hättest mich erschießen sollen. Ich bin wie ein Rennpferd, dessen Bein gebrochen ist. Unnütz."

Brians Augen sind immer größer geworden, als er mir zugehört hat. Immer mehr dringt sein Schmerz nach außen. Das erste Mal in meinem Leben sehe ich einen Kerl weinen. "Es tut mir so leid. Alex... Es tut mir so... leid!", bringt er raus und Tränen laufen seine Wangen hinunter. Bleiben in seinem Bart hängen und ich verfluche mich innerlich. Ich kann es nicht sehen, wenn andere weinen. Egal, wie sehr ich sie im Moment irgendwie verabscheue oder nicht mag. Oder ihnen einfach aus dem Weg gehen möchte. "Ich bin ein Idiot. Ein Arsch! Ich weiß... Ich weiß, Alex!" Die Stimme ist gebrochen. Genau, wie der ganze Mann vor mir. Ich lasse es zu, dass er seine Hand an meine linke Wange legt. "Aber bitte tu mir das nicht an... Du bist alles, aber nicht unnütz!"

Schwer schluckend, weil diese verdammten Gefühle für ihn wieder auftauchen, bleibe ich seinem Blick standhaft. "Du bist wunderschön. Du hast Humor. Bist klug. Weißt, wie du die Dinge angehen musst. Bist loyal. Du..." Bitte... Bitte hör einfach auf zu reden. Es ist so schon schwer genug! Bitte... "Du bist perfekt." Ich spanne meinen Unterkiefer so sehr an, dass er zittert. Verziehe meinen Mund und drehe meinen Kopf auf die Seite. Ich kann nicht mehr. Der Kerl... egal wie viel Scheiße er gebaut hat, ich werde diese beschissenen Gefühle nicht los. "Ich war damals nüchtern. Ich... Anfangs warst du mir suspekt. Ein Mädchen als Proxy? Und dann noch so schwach? Untrainiert? Ich wusste nicht, was ich von dir halten soll. Du warst mir damals egal. Eine Arbeitskollegin. Mehr nicht."

Stumm höre ich ihm zu. Sehe ihn aber nicht an. "Als dann die Rache kam und wir spielen mussten... habe ich erst gemerkt, wie du eigentlich wirklich bist. Es fühlte sich schon fast an, wie eine richtige Beziehung!" Er schnaubt und lässt seine Hand sinken. "Ich habe mich erst in der Beziehung... Du wurdest zu einem Teil, den ich nicht vermissen wollte. Aber dann hat alles überhandgenommen. Die Gefühle für dich. Sie wurden zu viel. Ich konnte es nicht ertragen, dass alles nur gespielt war. Ich... Ich musste mich erstmal selbst fragen, was ich eigentlich will. Und an dem Morgen, als wir im Bett lagen... Es war, als wäre ein Traum in Erfüllung gegangen! Ich war so... glücklich. Das erste Mal ohne Alkohol und ohne etwas Gespieltem im Hinterkopf. Und als du mich gefragt hast, was ich fühlte..."

Brian lässt seinen Kopf hängen. Ich drehe meinen zu ihm. Es ist schwierig, nicht einfach in Tränen auszubrechen. Er war genauso in mich verknallt, wie ich in ihn. Nur zu einem späteren Zeitpunkt. "Ich war überfordert!", meint er dann und sieht wieder zu mir. "Ich wusste nicht, was ich sagen soll. Ich wusste nicht, wie du reagieren würdest! Im Nachhinein gesehen ein Arschloch-move. Ich hätte wissen müssen, dass du so etwas nicht fragst, wenn da nicht etwas bei dir wäre. Und dass du dich nicht so verhalten hättest, wenn du mich nicht auch..." Seufzend schüttelt er den Kopf. "Du kannst mir nicht vergeben. Das ist mir klar. Ich habe zu viel zerstört. Ich habe DICH zerstört. Aber bitte!" Seine rechte Hand legt sich auf meinen linken Oberarm. Wahrscheinlich traut er sich nicht, höher zu gehen. "Bitte bleib wenigstens im Leben. Ich habe zu viel verloren... Als dass ich es verkraften könnte, wenn du auch noch verschwindest."

The 4th ProxyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt