Kapitel 17 - Amanda

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Es regnete wieder. Gestern hatte den ganzen Tag die Sonne geschienen, sodass ich Grandpa nach mehreren Runden Schach, die ich alle kläglich verloren hatte, in einen Rollstuhl gesetzt hatte, um mit ihm einen langen Spaziergang zu unternehmen. Dabei war mir dann eingefallen, dass ich eigentlich ein Interview mit Caiden O'Neill hatte, doch das hatte ich schnell mit einem kurzen Anruf bei seiner Sekretärin verschieben können.

Grandpa hatte mir zwar versichert, dass ich meine Arbeit machen sollte und er allein zurechtkommen würde, aber ich wollte ihn nicht allein lassen. Ich glaubte ihm, dass er sich ohne mich auch beschäftigen würde können, aber das wollte ich nicht. Ich wollte Zeit mit Grandpa verbringen, denn mir ist wieder einmal vor Augen geführt worden, wie wenig Zeit wir Menschen doch haben.

Meine seltsame Stimmung hatte zum Glück nicht sehr lange angedauert, denn nach dem langen Spaziergang hatten wir weitere Runden Schach gespielt, die all meine Konzentration gefordert hatten. Grandpa hatte die ganze Zeit geredet und geredet. Und ich hatte trotzdem jedes einzelne Spiel verloren. Langsam glaubte ich, dass er schummelte. Wie sonst konnte er, ohne dem Spiel seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken, mich jedes Mal wieder aufs Neue schlagen? War ich wirklich so schlecht?

Am Nachmittag hatte Dad mich kurz angerufen und ich hatte Grandpa mein Telefon gegeben, damit die beiden sich etwas unterhalten konnten. Währenddessen hatte ich noch einmal Wasser geholt. Ich hatte mir aber so viel Zeit gelassen wie möglich, um selbst nicht auch noch mit Dad reden zu müssen. Seit der Scheidung war es seltsam mit ihm zu reden. Genauso mit Mum. Es schien die beiden nicht mal ein bisschen zu stören, dass sie kein Paar mehr waren. Und ich benahm mich wahrscheinlich wie ein Kleinkind, weil ich nicht mit der Scheidung meiner Eltern umgehen konnte. Aber es fühlte sich einfach nicht richtig an. Ich hatte 22 Jahre lang meine Eltern als sich liebendes Paar betrachtet. Jedes Mal, wenn ich sie gesehen hatte, hatten sie kurze zärtliche Blicke oder Berührungen ausgetauscht. Selbst kurz bevor sie die unheilvolle Botschaft verkündet hatten. Zumindest hatte ich geglaubt, dass sie das getan hatten. Die Scheidung hatte mir die Füße unter dem Boden weggerissen, denn ich hatte immer angenommen, dass ihre Ehe gut lief. Scheinbar hatte ich mich da geirrt. Und genau darum, weil mich die ganze Situation seit Jahren verwirrte, hatte ich angefangen einen Bogen um Mum und Dad zu machen. Da Mum und Noah jedoch zwei Wohnungen im selben Haus nur 10 Minuten von unserem Familienbetrieb, unserer Schreinerei, entfernt wohnten, hatte ich unweigerlich auch um Noah einen Bogen machen müssen. Denn während Noah der Schreinermeister war, übernahm Mum die organisatorischen und finanziellen Aufgaben. Und vollkommen absurd wurde es, als Dad und Mum sich getrennt, Dad aber weiterhin in der Schreinerei gearbeitet hatte. Und das tat er jetzt immer noch und traf jeden Tag auf Mum, die er wohl trotzdem nicht mehr zu lieben schien. Meine Familie war vollkommen verrückt!

Dennoch. Ich liebte meinen Bruder. Er hat immer auf mich aufgepasst. Als Teenager hat mich das sicherlich mehr als einmal an den Rand der Verzweiflung gebracht, aber mittlerweile konnte ich darüber hinwegsehen. Er war mein großer Bruder. Und damit sei ihm sein überbehütendes Verhalten verziehen. 

Ich hatte damit gerechnet, dass er mich bei unserem gestrigen Treffen sofort auf die Scheidung unserer Eltern ansprechen würde. Damit hatte er sich aber Zeit gelassen, bis wir von meinem Lieblingsrestaurant, was genau genommen ein Teehaus mit erweiterter Speisekarte war, in einen Pub gewechselt waren. Ich hatte nur einmal um die kaputte Ehe meiner Eltern geweint. Das war an dem Tag gewesen, als ich gesehen hatte wie Dad seine Koffer zum Auto gebracht hatte. Der Tag, an der unsere Eltern Noah und mir von ihrer Scheidung erzählt hatten. Danach hatte ich keine einzige Träne mehr vergießen wollen. Gestern aber, als Noah mit mir sprach und plötzlich fragte, ob er etwas Falsches getan hatte, weshalb ich ihm aus dem Weg ging, waren die Dämme gebrochen. Noah hatte mich lange festgehalten und wortlos getröstet. Ich glaube, er war der einzige erwachsende Mann, der wusste wie man mit einer weinenden Frau umging. Vielleicht wusste er aber auch nur, wie er mit meinen Tränen umgehen musste. Das war mir egal. Ich hatte mich hundertmal bei ihm entschuldigt, ihm das Gefühl gegeben zu haben, dass ich ihn nicht mehr liebte. Er war so ein wichtiger Knotenpunkt in meinem Leben, dass ich mir gar nicht vorstellen wollte, was er sich alles ausgemalt hatte.

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