Kapitel 23 - Caiden

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Es war Freitag. Wobei ich eher sagen sollte: Es war erst Freitag. Ich hatte Amanda vor fünf Tagen auf der Feier von TiWo kennengelernt, aber da meine Gedanken ständig um sie kreisten, kam es mir vor, als würde ich sie schon viel länger kennen. Fünf lange oder kurze Tage, wie man es nun sah. Dass die ganze Geschichte in so einem Gefühlschaos enden würde, hatte ich nicht angenommen, als ich mich zu Amanda an den Tisch gesetzt hatte, um herauszufinden, ob sie vielleicht doch eine gute Journalistin für TiWo sein könnte.

Der Kuss gestern hatte mir mehr als deutlich gezeigt, dass ich Amanda wahrscheinlich noch nie als etwas anderes als eine Frau gesehen habe, die wunderschön, klug, schlagfertig und ehrlich war. Seit unserem ersten richtigen Gespräch war sie für mich mehr als eine einfache Journalistin gewesen, die mir helfen konnte, meine Idee in die Tat umzusetzen. Jetzt hingegen war ich mir sicher, etwas falsch gemacht zu haben. Sonst hätte sie mit Sicherheit nicht so auf den Kuss reagiert. Für einen Moment hatte ich gestern Abend im Bett darüber nachgedacht, dass der Mann in der Bar doch nicht ihr Bruder gewesen war, sondern ihr Freund, aber nachdem mir die Möglichkeit durch den Kopf gegangen war, dass die beiden verwandt waren, hatte ich die Ähnlichkeiten der Augen, Nase und Gesichtszüge eindeutig erkennen können. Das war also nicht der Grund gewesen, warum Amanda mich höflich, aber eindeutig von sich geschoben hatte. Vielleicht wollte ich auch einfach nicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es schon einen Mann in ihrem Leben gab. Und wenn doch, was sagte es über Amanda aus, dass sie meinen Kuss mit derselben Intensität wie meine erwidert hatte?

Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Das war eindeutig die falsche Richtung, in die ich dachte. Seufzend fuhr ich mir mit meinen beiden Händen vom Stirnansatz bis zum Nacken durch mein Haar und wartete, dass die Kaffeemaschine endlich fertig wurde. Das erlösende Piepen ließ mich aufatmen, ehe ich mir die Tasse schnappe und mich auf den Balkon begab. Die Sonne war noch nicht so weit gewandert, um meinen Balkon zu wärmen, aber das störte mich nicht. Die Kühle des Morgens ließ mich immerhin wach werden.

Seufzend ließ ich mich in einen der zwei Korbstühle fallen und zog mein Handy aus der Hosentasche. Ich scrollte durch die Namen und startete meinen wöchentlichen Videoanruf. Die Tasse stellte ich nach einem weiteren großen Schluck auf den Tisch aus schwarzem Glas. Das Handy lehnte ich dagegen, um die Hände freizuhaben. Kurz darauf wurde der Anruf auch schon angenommen und ich sah meinen Dad an.

„Guten Morgen Dad! Wie geht es dir?", fragte ich und lächelte. Mein Dad grinste zurück. Wir sahen uns nicht allzu ähnlich, aber ich war auch meiner Mum nicht aus dem Gesicht geschnitten. Sowohl meine Haarfarbe als auch meine Augen schienen eine Mischung aus meinen Eltern zu sein. Jedoch hatte ich die Statur und die Liebe eines ordentlich gestutzten Bartes von meinem Dad geerbt.

Guten Morgen, mein Sohn. Es geht mir gut. Wie geht es dir? Was macht die Stiftung?", fragte mich Dad in Gebärdensprache. Ich vermisste meine Eltern. Wir hatten immer ein sehr enges Verhältnis gehabt, aber seit ich die Leitung von TiWo übernommen habe, hatte ich fast nie die Zeit gefunden, sie zu besuchen. Ich war mir sicher, dass die beiden die Wahrheit sagten, wenn sie mir versicherten, das zu verstehen. Aber das änderte nichts an meinem schlechten Gewissen. Mum und Dad waren meine besten Freunde. In der Schule hatten es weder Sie als Elternteil noch ich als Schüler leicht gehabt. Ich wurde verspottet, weil mein Dad stumm und meine Mum sogar taubstumm war. Meine Eltern hingegen waren von den anderen Eltern auf Versammlungen oder Ähnlichem nie ernst genommen worden. Und dafür hasste ich manchmal die Welt. Sie hatten schon genug Probleme, mit denen sie im Alltag fertig werden mussten, aber die Menschen mussten ja immer nochmal Salz in die bereits blutenden Wunden streuen.

Einen Moment atmete ich tief ein und aus. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich über die Ungerechtigkeit der Welt zu beschweren. Ich hatte das Gefühl, in letzter Zeit immer öfter in Gedanken zu versinken. Wahrscheinlich war ich gerade nur etwas gereizt durch den Schlafmangel, meine wirren Gedanken um Amanda und TiWo. „Es läuft ganz gut. Es ist viel zu tun und ich habe keine Ahnung, wie Roger das alles geschafft hat. Ich werde mir wohl oder übel bald einen Assistenten holen müssen." So wie ich Rogers Assistent geworden war. Genau so eine Person brauchte jetzt auch ich. „Das klingt vernünftig", stimmte Dad mir nickend zu.

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