5: Verrat

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Wieso sahen sie mich an, als sei ich die Böse? Niemand hatte sie darum gebeten, Birla zu erobern und mich zu entführen. Zugegeben, an meiner Entführung trug ich eine gewisse Mitschuld, doch nur, weil ich Elenor damit vor ihrem sicheren Tod bewahren konnte.

„Was wolltet Ihr im Westen", stellte ich eine allzu naive Frage. Hielten sie – insbesondere Laris – mich für harmlos, steigerte das meine Sicherheit und ihre Unachtsamkeit vielleicht.

„Es tut mir leid, so direkt zu sein, aber das geht dich nichts an", entgegnete Mikael und streichelte Sirja, seine Griva, die ab und an meinen Blick suchte.

Als Laris sich abwendete, sprang ich auf. „Wartet! Ich will verstehen, wieso Ihr mich mitgenommen habt. Mein Flehen kann nicht Grund genug gewesen sein, also warum?"

„Mädchen!", schnaufte er und seine Faust sauste an meinem Gesicht vorbei. Für einige Herzschläge standen wir eingefroren da, seine Hand öffnete sich neben meiner Wange und die Knochen seiner Finger knackten. „Versuch nicht, mich verstehen zu wollen." Kurz erhellten sich seine Augen. „Das ist zu viel für dich."

Mein Hals war zu trocken für eine weitere Frage und mein Herz zog sich in meiner Brust zusammen. Zitternd berührte ich meine Wange. Die Haut prickelte, als hätte sein Schlag mich erwischt und mir das Gesicht verzerrt, doch nichts hatte sich verändert.

Ich musste vorsichtiger sein.

Sein Zorn galt mir. Er beobachtete mich weiterhin aus dem Augenwinkel, tauschte wenige Worte mit Mikael, der auf seiner Griva aufsaß und fort ritt. Laris Blick traf meinen und er gab mir einen stummen Befehl: Folge mir.

Zögernd setzte ich mich in Bewegung, die Beine wackelig wie die eines neugeborenen Kitzes. Luina tigerte neben mir her. Mal tauchte sie links, mal rechts von mir auf oder schlenderte hinter mir her.

Das Lager der nördlichen Windreiter, das am Fuße eines ansteigenden Bergkamms errichtet worden war, wirkte karg. Die Zelte ebenso. Unter jedem Leinendach, das zwischen Bäumen oder in den Boden gerammte Stangen befestigt war, lagen zwei bis drei dünne Matratzen mit je einer rauen Decke. Laris öffnete eine Zelttür und verwand hinter dem Stoff.

Ich folgte unsicher, ob ich sollte oder nicht. Im Inneren stoppte ich abrupt. Laris hielt die Hände über dem Kopf und zwischen seinen Armen spannte sich das Hemd, das er sich auszog. Das Blut seiner Opfer hatte es sogar bis unter seine Lederkluft geschafft. Was mich jedoch weitaus mehr schockierte, war die Narbe, die sich von seiner Schulter quer über seinen Rücken bis oberhalb seines Steißbeines zog. Einzig die schwarzen Strähnen, die lang genug waren, bedeckten die rötlichen, hubbeligen Linien auf seiner Schulter, die seine gebräunte Haut aufribbelten.

„Schmerzt die Narbe?", erkundigte ich mich und schreckte zurück. Wieso blieb ich in seiner Gegenwart so ruhig? Warum interessierte es mich, ob er Schmerzen hatte?

Laris schaute mich nicht an, sondern knetete die Hände und befreite sich endgültig vom Hemd. „Vor vielen Jahren, als ich sie bekam, schmerzte sie." Dann wusch er sich das Blut vom Körper.

Jemand hatte ihn, den Schlächter von so vielen Menschen, so schwer verwunden können?

„Keine Fragen mehr", knurrte er und zeigte auf eine der Matratzen. „Willst du zurück in deine Heimat?"

„Meine Heimat?" Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Keine Fragen mehr, hatte er gesagt und gleich darauf konterte ich auf seine mit einer Gegenfrage. Allerdings blieb er handzahm und hob lediglich eine Augenbraue. Ich räusperte mich und nahm auf der Matratze Platz, fühlte mich nicht sicher, aber auch nicht bedroht. „Ihr habt meine Heimat eingenommen, nicht wahr? Es gibt keinen Ort mehr, an den ich zurückkehren könnte. Außerdem ..."

Griva - Die WindreiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt