2. Der Gamot

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Der Mann der fragte, trug einen zerschlissenen Zylinder, ein in Silber gefasstes Monokel und einen verwaschenen braunen Anzug. Er versuchte wohl mit seinem breiten Lächeln Vertrauen aufzubauen, wahrscheinlich hielten sie sie für irgendeine verirrte Hausmädchenseele.
Sierra musterte ihn eine ganze Weile, von den braunen und gewellten Haaren bis zu den alten Lederschuhen, bevor sie antwortete: „Oui."
   Sie zog ihren Mundwinkel nach oben, verstand sie Englisch doch sehr viel besser als die Sprache des Sonnenkönigs.
    Auf einmal polterte die kehlige Stimme von Hal-face: „Fangt die kleine Göre!"
   Die Auroren zuckten zusammen und das Lächeln des Mannes war wie weggewischt. Sie griffen nach ihren Zauberstäben und Sierra beschloss zu rennen. Sie stürzte sich in den Gang hinter ihr, der Korridor für die Bediensteten, welcher sich bis in die Unendlichkeit gabelte, weil ihr Vater das Geräusch des Apparierens als zu disharmonisch empfand.
      Die schwerfälligen Schritte der Auroren hallten in dem niedrigen Gang wieder und wurden zu einem zurückgelassenem Chor, der an Büffelherden erinnerte. Sie beschleunigte die ihren und rannte jetzt.
Jemand schleuderte den ersten Fluch nach ihr, welcher mit einem Zischen in die Steinwand einschlug. Spätestens jetzt sollte sie wieder Angst bekommen, aber Sierra war zu sehr damit beschäftigt Luft zu schöpfen, als sich zu fürchten.    
Fremde waren bei ihr zuhause eingestiegen, sie war soeben der größten Schwarzmagierjägerin eines ganzen Landes vor die Füße gelaufen und trotzdem konnte sie noch geradeaus denken.
    Ihr wurde klar, dass es nun Außenstehende Menschen gab, die von ihrer Existenz wussten und leider auch zu viel Interesse an dieser zeigten.
     Das Trampeln hinter ihr wurde lauter und sie bog um eine Ecke.
      Endlich. Das Treppengeländer.
Sie ergriff das blanke Holz und warf einen Blick über ihre Schultern. Die Gruppe Auroren schritt auf sie zu, die Zauberstäbe erhoben, aber keinen Fluch murmelnd. Sie hielten sie anscheinend immer noch für nur ein kleines Mädchen. In dem Moment wagte Sierra zu denken, sie könnte sie vielleicht irgendwie austricksen, aber da kam Half-face und ließ ihre Gedanken dumm und lächerlich aussehen. Die Hexe kam hinter der Ecke hervor, mit einem von Wut verzogenem Gesicht, weit aufgerissenen Augen und befahl:
„Fangt sie doch ein!"
     Noch ein letzter Blick auf die Gruppe Auroren, die alle die Augen verdrehten oder seufzten und sie warf ihre langen weißen Haare über die Schulter und hüpfte drei Stufen höher.
Ein gleißender Blitz surrte an ihr vorbei, Zentimeter trennten sie und kurz stopfte die Angst ihre Lungen aus, dann waren ihre Atemwege wieder frei und sie nahm zwei weitere Stufen.
Jetzt prasselten die Flüche nur so an ihr vorbei, schummrig dunkle, viel zu strahlende und allzu leuchtende. Keiner erwischte sie und das verschuldeten die Gene ihrer Mutter.
   Sie spürte die Lichtblitze, bevor sie kamen, immer ein paar Sekunden zu weit vorn und das brachte sie einige Meter höher.
„Kleine Hexe!", hörte sie die vernarbte Aurorin irgendwo unter ihr fluchen.
   Sierra musste lächeln und für zwei Sekunden schweiften ihre Gedanken von dem Geschehen ab. Ein Fluch traf sie, sie wandte ihren Kopf und sah das teuflische Grinsen im gehälftetem Gesicht.
Sie spürte noch, wie der Boden verschwand, ihr Körper in eine Waagerechte gehoben wurde und dann versank ihre Welt in Schwarz.

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Ein Räuspern zog Sierra in die Wirklichkeit zurück. „Miss?", fragte die Stimme.
  Sie schlug die Augen auf, musste blinzeln und fuhr zusammen, als sie das glatt rasierte Gesicht des Auroren erkannte. Sie war jetzt endgültig wach, fühlte den harten Boden, auf dem sie lag und setzte sich auf.
„Wo bin ich?", krächzte sie mit verschlafener Stimme, obwohl sie es eigentlich schon wusste. Der Mann richtete sein Monokel und meinte dann, sanft, als spräche er zu einem Kind: „Das denke ich, wissen sie."
   Ja, aber ich will es nicht glauben, dachte sie und ballte ihre Fäuste zusammen. Er sah ihr nicht in die Augen, sondern hatte seinen Blick auf eines der Fenster gerichtet.
   Sie stellte sich auf ihre wackligen Beine, ihr weißes Sommerkleid raschelte dabei wie die Blätter an den Aleppokiefern, wenn er ihnen das Chlorophyll entzog und sie dann schwach und schlapp an den Ästen hingen.
   In dem Raum stand eine Schar an Stühlen und Tischen, in drei geraden Reihen aufgestellt und alle leer. Auf den Pulten lagen Unmengen an Blätterstapeln und Sierra ließ ihren Blick weiterwandern, bis er an der Wand zu ihrer Rechten hängen blieb. Sie war mit hunderten Fahndungsblättern vollgepinnt und inmitten der kleinen Porträte hing ein großes.
   Noch bevor sie es ansah, glaubte sie zu wissen wer es war.
Das Glasauge, die weißen Haare, der Bart, die hohe Stirn. Der Maler hatte ihren Vater gut getroffen, wenn das Bild auch nur aus ein paar wenigen Kohlestrichen bestand.
Sie riss ihren Blick von dem Bild ab und begutachtete den Saum ihres Kleids.
„Sie kennen ihn", sagte der Mann auf einmal und stellte sich neben sie. Es war keine Frage sondern eine Feststellung und er sagte es, ohne sie anzusehen. Weil Sierra nicht wusste, wie sie antworten sollte, erwiderte sie nichts, sondern blickte ihn kurz von der Seite an. Er hatte seine braunen Augen auf das Abbild ihres Vaters gerichtet und machte es ihr so unglaublich schwer, was hinter seinen Worten stand.
Die Ader an seiner Schläfe pochte und der Auror hatte seine Lippen zusammengepresst, als müsste er Worte zurückhalten.
   Sie wusste, dass viele Menschen ihren Vater nicht mochten, dass er viel falsches getan hatte und als Staatsfeind von England und vielen anderen Ländern galt. Aber noch nie hatte sie gedacht, dass ihn jemand wirklich so sehr hassen könnte, wie es die Menschen um sie herum wohl taten.
Klar, sie war oft sauer auf ihn, er schenkte ihr keine Zeit, keine Aufmerksamkeit, nichts.
Manchmal war er so in Gedanken versunken, dass er sie tagelang nicht ansprach. Und manchmal erschien er für sie gar nicht wie ihr Vater, sondern eher wie gut bekannter Onkel, der immer mal wieder zu Besuch kam.
   Niemals jedoch, könnte sie ihn so sehr hassen, dass sie ihr Leben darauf verwenden würde, ihn zu jagen, ihn zu verfolgen und dann zu besiegen.
Schließlich war er doch nicht böse.
Oder?

Todesspiele mit einer TodesfeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt