3. Auf nach Hogwarts

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Sierra rannte durch die Wand, sie hatte die Augen geschlossen und war fest davon überzeugt gegen kalten Stein zu stoßen. Die Mauer stoppte sie allerdings nicht und so kam sie mit zu viel Schwung auf dem Gleis an. Fast verlor sie die Kontrolle über ihren Wagen, zog ihn dann aber noch rechtzeitig zurück, bevor er der gut betuchten Dame vor ihr in die Fersen rauschen könnte.
Sie sah sich um und ihre Augen weiteten sich. Über ihr war das Dach verglast, vor ihr pfiff ein Zug und stieß seinen Qualm in die Luft. Die Lokomotive strahlte in mattem Scharlachrot, die Menschen eilten vor ihr umher und Sierra konnte ihren Blick nicht abwenden.
So hatte sie sich immer die Gleise vorgestellt, voller Leben und gerade abfahrenden Zügen.
Half-face packte sie an ihrem Ellenbogen und zerrte sie weiter. Die vernarbte Aurorin verbarg ihr Gesicht in ihrem Mantelkragen, wohl wollte sie verwunderten Blicken entgehen.
Aber sie gingen auch so in der Menge unter, niemand schenkte ihnen Aufmerksamkeit und niemand erkannte sie.
Während Sierra der Schwarzmagierjägerin hinter her lief, versuchte sie ihren Kopf in alle Richtungen zu drehen, um alles Sehenswerte einzufangen. Die ganze Halle war gefüllt mit strahlendem Sonnenlicht, die Lok glänzte wie frischgestrichen und die Menschen lachten und kicherten um die Wette. Hier gab es keinerlei Anzeichen für all das Chaos, das zurzeit die Welt beschäftigte.
An den großen Bahnhöfen in Frankreich huschten die Menschen geduckt herum und ihre Mienen spiegelten die drastische politische Lage. Aber hier an dem Gleis für die Schüler und Schülerinnen herrschte eine fröhliche Stimmung. Vermutlich wusste die Hälfte der Zauberer von hier noch nicht einmal etwas über den Krieg der gerade tobte. Half-Face blieb abrupt stehen und Sierra lief beinahe in sie hinein.
Der düstere Blick der Aurorin kümmerte sie nicht. Sie besah sich lieber die Schüler, die in den Zug strömten. Die Vorfreude in ihrem Magen wurde langsam ein zähes Gemisch aus Angst. Die Idee schien im Tageslicht und vor einem bald abfahrendem Zug nicht mehr so brilliant.
Sie hätte fliehen können, dachte sie sich.
Aber nein, sie wollte das echte Leben ausprobieren. Die Aurorin bohrte ihre Fingernägel in Sierras Handgelenk.
„Hör mir gut zu."
In ihren Augen schimmerte die Abscheu dreckig und dunkel.
„Mach auch nur eine einzige Dummheit und du kommst zurück, ein Verstoß gegen die Regeln und du kannst dich darauf gefasst machen als Köder für deinen Vater benutzt zu werden", schärfte sie ihr ein.
Der altmodisch gekleidete Zauberer deutete mit seinem zerschlissenen Zylinder auf die tickende Bahngleisuhr. Half-face ließ sie los und Sierra tastete sofort ihr schmerzendes Handgelenk ab. Sie verzog ihr Gesicht. Die Frau hatte doch tatsächlich drei hellrote Halbmonde in ihrer Haut hinterlassen. Sie schob die Worte, die sie der Frau gerne entgegen spucken wollte, von sich und warf sie über Bord. Sie würde diese Chance nutzen. Also stieg sie in die Lok und würdigte die Auroren mit keinem Blick mehr.
Das Kindergeschrei verstummte allmählich im Innern des Zugs. Dort wuselten die Schüler in alle Richtungen um ihre Freunde oder ein leeres Abteil zu finden. Sie huschte durch den schmalen Flur und hielt Ausschau nach dem Blondschopf, auf den sie all ihre Hoffnungen setzte. Immer weiter zwängte sie sich durch die Schüler und Schülerinnen.
Ihre Gedanken, die seit dem Gamot still standen, fingen nun an sich im Kreis zu drehen. All die Fragen auf die sie keine Antworten hatte.
Ob sie vielleicht die falsche Entscheidung getroffen hatte.
Ob sie vielleicht doch in ihrem goldenen, beziehungsweise weißem Käfig hätte sitzen bleiben sollen.
Ob sie das Schuljahr bestehen würde.
Dieser Gedanke ließ sie fast auflachen, es war absurd. Die Noten sollten ihre letzten Sorge sein. Aber sie durfte sie nicht unterschätzen. Wenn sie wirklich ein neues Leben anfangen wollte, dann brauchte sie tatsächlich einen guten Abschluss. Das Mädchen schritt hoch erhobenen Kopfes in den zweiten Teil des Zuges.
Noch immer kein Abraxas.
Hier schien das Innere dunkler, die umherlaufenden Schüler wurden immer weniger und Sierra begann damit, die Abteile zu zählen, an denen sie vorbei kam.
Sie ließ es schon bald wieder.
Keine Spur von dem Malfoysohn. Und sie erreichte bald das Ende des Zuges.
In dieser Sekunde, als hätte sie laut nach ihm gerufen, schob er sich aus dem letzten Abteil auf den Gang, direkt vor ihre Füße. Als sein Blick auf sie fiel, erstarrte er.
„Was machst du denn hier?", fragte er, offensichtlich überrumpelt. Sie nestelte an dem Saum ihres Mantels herum, nicht sicher was sie sagen sollte noch was sie sagen durfte.
„Sie haben das Landhaus gestürmt", murmelte sie dann als Antwort.
„Aber woher wussten sie den Standort?", hakte er nach. Sierra zuckte mit den Schultern, das war noch nicht relevant genug für Überlegungen gewesen.
„Ich weiß es nicht."Abraxas nickte, nicht völlig anwesend, dann verschwand der Gesichtsausdruck und er lächelte sein altbekanntes schiefes Lächeln. „Na dann sollte ich dich doch mal vorstellen, wenn du doch endlich nach Hogwarts gehst!"
Er nahm ihr das Gepäck ab und öffnete dann die Abteiltür. Sie folgte ihm, auch wenn der Klumpen in ihrem Magen dabei anschwoll.
Drei Jungen saßen in dem Raum, einer in ein Buch vertieft, die anderen beiden musterten sie. Abraxas räusperte sich, aber der Lesende machte keine Anstalten aufzusehen. Vier Augenpaare lagen auf ihm, erst als er den unteren Rand der Seite erreichte, klappte er das Buch zu und hob seinen Kopf. Sierra bekam nicht genügend Zeit um seine Gesichtszüge zu mustern, denn Abraxas sagte:
„Also Leute, das ist Sierra, eine Freundin von mir. Sierra, das sind Frederick Lestrange, Eliot Avery und Tom Riddle."
Ihr Blick glitt von einem Gesicht zum andern, verknüpfte Namen und Anblick, aber den letzten kannte sie nicht. Ihr war keine Riddle Zaubererfamilie bekannt, wobei sie sich natürlich eingestehen musste, dass sie nur die Verwandten der Familie Malfoy wirklich kannte.
„Guten Tag", begrüßte sie der etwas stämmigere Eliot mit einem breiten Lächeln. Sie nickte ihm zu. „Entschuldige, aber wie heißt du mit Familienname?", warf Frederick ein. Da war er, der Reinblutfanatismus, dachte sie. Ihr Herz stoppte nur für den Bruchteil einer Sekunde und sie spürte wie Abraxas sich neben ihre anspannte.
„Sierra Aberdeen", nannte sie den Namen, der ganz und gar nicht der ihre war. Der Gamot hatte sich bei dieser Wahl sehr schwer getan. Es war Zufall, dass die ausgesuchte Familie, eine reinblütige war. Der Junge mit den schwarzen Locken wusste dies wohl auch, denn jetzt ließ er sich zu einem Grinsen herab.
Was ein Gesicht er wohl ziehen würde, wenn er wüsste, dass Sierra ein unwürdiges Halbwesen war. Der Schwarzhaarige am Fenster, Tom, erinnerte sie sich, unterzog sie seinen Blicken, die sie in ihrer eigenen Haut unwohl fühlen ließ.
Abraxas hingegen hatte seine gewohnte Lässigkeit zurückerlangt und wies ihr jetzt den anderen Fensterplatz zu, während er ihren Koffer hochhievte. „Was hast du da alles drinnen?", keuchte der Blondschopf. Sie schmunzelte und vor ihrem inneren Auge tauchten die vielen Bücher auf, die den halben Koffer beanspruchten. Was ein Glück, dass der ulkige Auror ihr mit einem Ausdehnungszauber genug Platz geschaffen hatte, nachdem sie ihn eine halbe Stunde bejammert hatte.
„Hauptsächlich was zum Lesen", gab sie ihm zurück und richtete ihre Kleidung.
„Du weißt schon, dass es in Hogwarts auch was ‚zum Lesen' gibt, oder?"
Er ließ sich auf den Platz neben sie fallen.
„Auf Englisch, ja."
Abraxas verdrehte lediglich die Augen, er sprach zwar ebenso beide Sprachen, aber er bevorzugte klar Englisch.
„Du kommst nicht aus England?", fragte Frederick. Auch Eliot wandte sich ihr zu. Riddle hingegen hatte sein Buch wieder aufgeschlagen. Sie wollte ihm nicht so viel Interesse entgegenbringen, also wand sie den Blick ab und antwortete: „Ja, ich komme eigentlich aus Frankreich und kann Französisch nun mal besser lesen, Englisch besser sprechen."
Das entsprach sogar der Wahrheit, ihr Vater führte seine wenigen Gespräche mit ihr ausschließlich auf Englisch. Aber in der Bibliothek des „weißen Gottos" standen nur französische Werke.
„Warum gehst du dann nach Hogwarts? Gibt es in Frankreich nicht auch eine Zauberschule?", fuhr Frederick mit seiner Fragerei fort. Sierra kamen die Sätze ins Gedächtnis, die ihr der Zaubergamot gepredigt hatte.
„Ja, gibt es. Sie heißt Beaxbatons, allerdings bin ich bis jetzt immer privat unterrichtet worden."
Der Zug setzte sich in Gang und schon schwoll der Lärm aus den anderen Abteilen an. Am Bahnsteig standen Zauberer und Hexen, die ihren Kindern hinterherhinkten und einige verloren Tränen.
Abraxas warf als einziger von ihnen einen Blick nach draußen, aber seine Eltern hatten mit irgendwem ein Gespräch begonnen und sahen nicht auf, als der letzte schrille Pfeifton erklang und der Zug an den Familien vorbei rauschte. Sierra glaubte im Schatten ein Gesicht zu entdecken, eins in zwei Hälften und es grinste sie an.
Sie sah so lange aus dem Zugfenster, bis die grauen Wände zu grünen Wiesen und Weiden wurden. Der Nebel krönte die Spitzen der Hügel und die Sonne kämpfte sich hinter den grauen Wolkenbahnen  hervor.

Todesspiele mit einer TodesfeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt