40. Wie damals

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„Du bist dran", Tom trat zurück, sein Gesicht blank. Sierra wünschte sich, sie hätte irgendein Gefühl darin gesehen.
Irgendeine Regung.
„Zeig mir deine größte Angst", fügte er hinzu, Spott vergiftete die Worte und ihr wurde bang. Es war nun also so weit.
Heute Abend würde sie ihr allerletztes Geheimnis offen legen, zu den Füßen eines Jungen, der sich davon allen Nutzen der Welt ziehen konnte.
Sie schluckte.
Ihr Kopf schrie, sie solle laufen. Ihr Herz murmelte, sie solle ihm vertrauen. Ihr Bauch wisperte, sie solle sterben.
Sierra hatte vor Tom mit seinem eigenen Geheimnis zu erpressen.
Es musste ihm klar sein.
Er würde sie nicht offenbaren, nicht wenn es ihn seinen Platz an Hogwarts kosten würde. Also schritt Sierra nach vorn, das schwarze Glas nur einen halben Meter von ihrem pochendem Herzen entfernt. Der Wind wirbelte durch sie hindurch und hinterließ kalte Küsse auf ihren Wangen.
Sierra ließ die Mauern um ihren Geist abfallen, ließ den Spiegel ihre Angst abbilden. Es brauchte nur eine Sekunde, dann sah sie das zerschmetterte Holz auf dem Boden.
Es war der Salon des Landhauses, der volle Mond schien hinter den Fenstern, so wunderschön, ganz das Hässliche ignorierend, welches unter seinem Glanz stattgefunden hatte. In dem zerwüsteten Raum konnte Sierra aufgeschlitzte Sessel, zerbrochene Vasen, zerrissene Vorhänge, zersplitterte Fenster und die glitzernden Einzelteile des Kronleuchters, verteilt auf dem Boden, ausmachen.
Inmitten all des Chaos saß ein Mädchen, ihr Rücken zu Sierra und Tom gewandt, ihre weißen Haare fielen darüber und sie kauerte sich zusammen. Schluchzer hallten in der Stille.
Es waren ihre eigenen Schluchzer.
Es war sie selbst, die dort saß und sich selbst hasste. Sierra konnte sich so gut an diese Nacht erinnern. Jeder andere Tag wurde irgendwann verwaschen und verblasst, aber nicht dieser.
Sie würde diese Erinnerung für immer mit sich tragen. Sie war damals elf gewesen, ihr Vater fern, so wie immer. Es war ein Freitag gewesen, ihre Lehrer hatten das Landhaus verlassen gehabt und sie war allein in dem Salon gesessen, nur ein paar Dienstmädchen noch arbeitend.
Sierra wusste sogar noch den Titel des Buches, das sie damals gelesen hatte. Es war ein Muggelbuch gewesen, ein Band mit Gedichten, eingeschlagen in dunkles, samtenes Blau und das Gesicht des Mondes auf dem Buchrücken. Sie hatte durchgeblättert, mäßig begeistert von den geschriebenen Wörtern. Mehr begeistert von den Sternenkarten, die sich am Anfang und Ende befanden hatten.
Es war spät gewesen, Sierra hatte schon zu Abend gegessen und die Standuhr hatte schon elf geschlagen. Spät, für eine Elfjährige.
Draußen hatte es geregnet und gewindet, sie hatte jede Bewegung des Hauses gehört, auch wie die Regentropfen auf das Dach prasselten und an den Fenstern hinabrannten.
Vielleicht hatte man deswegen das Zerbrechen des Fensters nicht gehört. Vielleicht hatte die Natur zu laut gewütet, als dass jemand hätte hören können, wie fünf fremde Menschen sich Zugang zum Haus ihres Vaters beschafft hatten.
Sie wusste nicht, ob es Auroren waren.
Es war gut möglich. Oder vielleicht andere Feinde ihres Vaters. Vielleicht sogar auch Muggel, die in die Berglandschaft Frankreichs getrieben worden waren und sich verirrt hatten.
Sierra bemerkte sie zumindest irgendwann.
Ihre Stimmen polterten in der Nacht und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Kein Dienstmädchen kam und bat sie aus dem Haus. Niemand hinderte sie daran, zu ihr zu gelangen.
Die Gruppe öffnete die Türen zum Salon, Sierras elfjährige Version befand sich in Todesangst. Die Männer sprachen in einer dunkeln, einer unbekannten Sprache.
Sie kamen auf sie zu, sprachen sie an, doch sie verstand kein Wort. Dann konnte sie für den Bruchteil einer Sekunde die blutige Faust eines der Männer im grellen Licht des Kronleuchters erkennen.
Sie spaltete sich sofort. Das Wesen übernahm die Kontrolle, Sierra verlor alle Macht über ihren Körper. Sie bekam nur mit wie sie fauchte und als dann der Mann mit dem Blut an den Händen vortrat, wie sie schrie.
Vermutlich war sie nur wegen des Fensters blutig. Obwohl es sehr dumm war Fenster mit Fäusten einzuschlagen und es sehr schmerzhaft sein musste. Aber auch der bissige Geruch des Alkohols hatte ihr von der Gruppe Fremder entgegengeschlagen.
Sierra wusste nicht viel mehr. Sie war dankbar dafür. Als sie ihren eigenen Schrei gehört hatte, hatte sie die Kontrolle vollkommen abgeben und sich in ihr selbst verschanzt.
Sierra war zu Bewusstsein gekommen und eine Katastrophe vorgefunden. Dann hatte sie geweint und ihren Blick nicht von den toten Gestalten abwenden können.
In jener Nacht hatte sie nicht nur die fünf Fremden getötet, sondern auch das gesamte Personal, welches sich im Haus befunden hatte.
Erst als ihr Vater sie von dem Teppich hochgehoben hatte, weg von der Katastrophe, hoch die Treppen und ins Bett gebracht hatte, hatte sie ihren Blick von den Leichnamen gelöst.
Jetzt waren ihre Augen auf ihr selbst geheftet. Schluchzer hallten in dem Spiegelkorridor.
Sierra brauchte alle Kraft auf die Erinnerungen von sich zu stoßen und doch fühlte sie sie an ihr nagen. Dann verblasste die Kulisse des Hauses ihres Vaters und sie glaubte schon es überstanden zu haben.
Sie seufzte, aber dann zeichnete sich ein neues Abbild auf den schwarzen Gläsern.
Fünf Gesichter, die Augen zurückgerollt und weiß, Blut aus ihnen hinabrinnend und das Entsetzten in ihre Züge gepresst.
Drei andere Gesichter lösten sie ab. Die Dienstmädchen, mit dem strengen Dutt, der Uniform und dem ernstem Mund. Auch sie entstellte die Angst, auch ihre Augen waren weiß und auch sie weinten Blut.
Sierra konnte nicht atmen, der Anblick ihrer Taten schnürte ihr den Brustkorb zu. Sie hatte diese Menschen umgebracht, ihre Leben beendet.
Ein Wimmern entkam ihrer Kehle.
Wispern füllten die schreckliche Stille.
Die Stimmen der Toten, Sierra erkannte sie. Sie hörte die polternden Stimmen der Fremden und die damals so gut bekannten der Dienstmädchen.
Sie vermischten sich, wurden zu einem Gewirr, klangen in ihren Ohren nach und nur ihr Herzschlag übertönte sie.
Mörderin", fauchten sie.
Mörderin, Mörderin, Mörderin, Mörderin, Mörderin!", die Stimmen schwollen an, wurden lauter, durchdrangen ihren Kopf, ihren Körper, bis hinein in ihre Seele.
Ihre zweigespaltene Seele.
Das Wesen regte sich und Sierra wusste, der heutige Tag hatte eine katastrophale Wendung genommen. Der Chor an Stimmen verstummte, plötzlich und abrupt. Doch niemand gab ihr auch nur eine Sekunde so etwas wie Hoffnung zu spüren, Hoffnung auf ein Ende.

Todesspiele mit einer TodesfeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt