Vollmond

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15. Oktober

Ich bin dieses Dasein leid. Ich bin nicht ich selbst, solange ich nicht von den um mich strömenden Wellen umgeben bin. Erst zwei einhalb Monate sind vergangen und ich bin bereits kurz davor aufzugeben...

Ich hatte gestern ein Gespräch mit Professor Flitwick. Er hat den Vorfall mit dem Irrwicht angesprochen, als ich aus dem Klassenraum gestürmt bin. Er hat außerdem mit mir über meine Noten geredet. Viele Lehrer hätten ihm bereits erzählt, dass ich keine Hausaufgaben abgebe und gestern zudem nicht zum Unterricht erschienen bin. Das ist ohnehin absoluter Schwachsinn. Nicht mehr lange und ich werde mir die Träne des Ozeans vom Hals reißen. Dann bin ich für immer von hier fort. Ich habe keinen Grund Hausaufgaben zu machen oder zu lernen. Ich habe an Land und als Hexe keine Zukunft.

Liv atmete einmal tief durch. Sie setzte den Stift vom Papier ab und ließ ihren Blick von ihrem Bett aus durch das Zimmer wandern. Ihre Zimmergenossinnen schliefen bereits tief und fest. Doch heute fiel es Liv irgendwie besonders schwer einzuschlafen.

Das einzige Licht, welches ihr zum Schreiben blieb, war das helle Licht des Vollmondes, welches durch die Fenster schien. Sie sah die Ländereien von Hogwarts und den schwarzen See, in welchem sich der helle Mond wunderschön spiegelte. Livs Blick blieb am klaren Wasser und der spiegelglatten Oberfläche des Sees hängen. Sie schluckte. Ein weiteres Mal packte sie die Sehnsucht.

Leise schlug Liv ihre Bettdecke beiseite und schlüpfte in ihre Pantoffeln. Still und heimlich stand sie auf, holte ihren Mantel aus dem Schrank und schlich auf leisen Sohlen in Richtung Tür.

Ohne einen Mucks zu machen öffnete sie die Tür nach draußen. Sie blickte sich noch einmal zu den Mädchen um. Sie schliefen noch immer. Olivia schloss vorsichtig die Tür hinter sich und huschte durch den Gemeinschaftsraum auf die Gänge von Hogwarts.

Der schwarze See zog sie fast schon magisch an. Es war, als würde er ganz leise nach ihr rufen. Wie in Trance huschte Liv durch die Gänge. Ihre Füße trugen sie immer weiter Richtung Eingangsportal.

Als sie vor den großen Toren stand und sie versuchte aufzuschieben, öffneten sie sich mit einem Knarren. Schnell huschte sie nach draußen, aus Angst jemand hätte sie gehört.

Sie stand mit ihren Pantoffeln im taufrischen Gras, während ihr der Wind um die Ohren zauste und ihr ihre langen schwarzen Haare ins Gesicht wehte. Liv nahm einen befreienden Atemzug ehe sie sich weiter in Richtung See aufmachte.

Am Ufer verschmolz das Wasser langsam mit der Erde, die es umgab. Liv kniete sich in den Schlamm, ohne Hemmungen, dass ihre Kleidung vollkommen dreckig sein würde. Sie blickte auf ihr Spiegelbild, welches ihr entgegen starrte. Mit einem Schlucken musterte sie ihre grauen Augen.

Als sie früher ihr Spiegelbild betrachtet hatte, waren ihre Augen nicht grau gewesen. Sie hatte blaue Augen gehabt, strahlend blaue Augen, wie jede Meerjungfrau. Blau, so wie das Meer am herrlichsten, sonnigsten Tag. Doch die Perle um ihren Hals hatte ihre Augen grau verfärbt...

Plötzlich verschwamm das Spiegelbild vor ihren Augen, als eine Träne ins Wasser getropft war. Überrascht fasste sich Liv mit der Hand ins Gesicht. Sie weinte tatsächlich wieder. Sie hatte es gar nicht gemerkt. Doch jetzt wo sie es gemerkt hatte überschwemmten sie ein weiteres Mal alle möglichen Emotionen.

Wut auf ihr Rudel und ihre Schwestern, weil sie Liv in dieses Gefängnis gesteckt hatten. Wut auf ihre Mutter, weil sie sich auf einen Menschen eingelassen hatte und Liv zu ihrem Schicksal verdammt hatte. Trauer, weil ihre Gefährtinnen sie nicht bei sich haben wollten. Sehnsucht nach ihrer Familie... Furcht, vor dem Körper in dem sie gerade steckte. Angst vor der Träne des Ozeans... und die Furcht, sie nie herunter zu bekommen.

Tear of the Ocean (HP/Rumtreiber FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt