Kapitel 2 - Erinnerungen

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Asiri saß an ihrem Schreibtisch und las einen der unzähligen Bittbriefe, die sich vor ihr auftürmten. Es nahm einfach kein Ende damit. Seit sie von der alten Zauberin vor Jahren zur Nachfolgerin bestimmt worden war, war viel geschehen. Sie war damals nicht dafür bereit gewesen und hatte zu wenig Erfahrungen gehabt, um mit der Situation fertig zu werden. Auch jetzt wünschte sie sich wieder in das kleine Haus, in dem sie aufgewachsen war.

Sie seufzte leise und gab sich ihren Erinnerungen hin, nur um für ein paar Minuten all dem Leid zu entfliehen, das in Briefform vor ihr lag.

Asiri stammte aus einem kleinen Dorf unweit des Schlosses. Der König und die Königin waren gütig und sehr beliebt beim ganzen Volk. Asiri hatte sich gefreut, dass sie die neue Zauberin werden sollte, denn es war eine große Ehre für sie erwählt zu werden. Doch dann kam alles ganz anders.

Vor zehn Jahren hatte es angefangen. Im Nachbarreich war eine Revolution ausgebrochen. Der Mob nahm das Schloss ein und ermordete die gesamte Königsfamilie. Wer dafür verantwortlich war, konnte niemand sagen. Es schien so, als ob das einfache Volk die Kontrolle übernommen hätte, doch das war nur eine Illusion, die jeder erlegen war. Die Wahrheit war um einiges schlimmer. besonders für Asiri.

König Losuka machte sich Sorgen, aber es schien so, als ob sein Königreich verschont bleiben würde. Lange Zeit blieb es auch so.

Alles Schlechte blieb im Nachbarreich und niemand dachte mehr an die dunklen Mächte, die von da immer weitere Kreise zogen.

Eines Nachts kamen sie dann doch.

Plötzlich und unerwartet.

Der König hatte es dennoch voraus gesehen und seinen Sohn fortgeschickt. Der junge Prinz Lasander, der gerade erst von einem Kloster ins Schloss gekommen war, floh gerade noch rechtzeitig aus dem Schloss, als die Horden einfielen. Hexen, Trolle und dunkle Elfen, alles Geschöpfe, denen man nicht begegnen wollte, drangen in das Schloss ein und wüteten schrecklich, dabei nahmen sie keine Rücksicht auf Stand, Alter oder Art.

Asiri floh in den Keller des Schlosses und verbarrikadierte sich mit einigen Bewohnern in den geheimen Gängen ein. Die alte Zauberin war von einem Troll getötet worden und Asiri hatte noch nicht die Kraft gehabt, sich gegen ihn zu wehren. Deswegen war sie lieber geflohen, hatte aber andere mitgenommen.

Die ganze Nacht über hörten sie die Schreie der anderen, die es nicht mehr geschafft hatten, sich zu verstecken.

Erst am anderen Morgen trauten sie sich aus ihrem Versteck. Und was sich ihnen dann bot, ließ ihr sogar jetzt, Jahre später, das Blut in den Adern gefrieren.

Alle, die es nicht rechtzeitig in ein Versteck geschafft hatten, lagen tot am Boden. Widerliche Erdtrolle saßen bei ihnen und aßen von ihren leblosen Körpern. Farani, einer der Stallburschen, rannte auf sie zu und scheuchte sie mit Tritten weg. Tränen liefen ihm dabei unaufhörlich über das Gesicht.

Eine der Zofen schrie gellend und zeigte auf die Zinnen. Dort hingen die Köpfe der Ritter auf Lanzen. Die langen Haare flatterten im Wind und ihre Gesichter waren zu Fratzen verzogen.

Asiri hielt sich den Mund zu. Sie musste sich zusammenreißen, damit sie sich nicht vor all den Leuten übergab.

Die Diener und Stallburschen trugen die Toten in den Stall. Asiri ging langsam weiter. Nicht einmal die Hunde hatte man verschont. Sie lagen zusammen mit den Leichen im ganzen Hof verstreut. Dann hörte sie wie jemand näher kam. Mit einer Handbewegung schickte sie die Leute in die Ställe. Nur Farani widersetzte sich ihr und stellte sich hinter sie.

"Versteck dich, Stallbursche!", zischte sie.

Farani schüttelte entschlossen den Kopf.

"Das werde ich nicht, Zauberin. Ich war gestern feige! Jetzt will ich wenigstens dir beistehen!"

KomaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt