Mutter Natur und Gevatter Tod

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Als ich meine Augen aufmache, bin ich in einer komplett anderen Umgebung. Es sieht aus, wie ein Wald. Die Grillen zirpen. Ich kann Frösche hören. Es ist friedlich. Langsam stehe ich auf und sehe mich um. Mein Mund ist leicht offen. Meine Augen suchen nach etwas, was mir bekannt ist. Es ist angenehm warm. Nicht zu kalt, oder zu heiß. Ein leichter Wind lässt die Blätter rascheln. Die Sonne strahlt durch das Blätterdach der Bäume und Insekten summen friedlich umher. Vögel geben kund, dass sie hier seien. Ich sehe nach unten. Der Boden ist mit Moos bedeckt und hin und wieder scheinen die mächtigen Wurzeln der großen Bäume hindurch. Es sieht aus, als wäre ich in einem Märchen. Auch, fühle ich mich ziemlich friedlich und entspannt. Ruhig.

Vorsichtig gehe ich los. Ich trage die braune Hose und das beige Leinenhemd, welches ich auch in London getragen habe. Es ist so viel schräges Zeug passiert, dass ich schon gar nicht mehr Frage, was hier los ist. Obwohl ich das schon gern wissen würde. Der Geruch nach Erde und Wald steigt in meine Nase und ich atme tief ein. Hin und wieder kann ich etwas durch kleinere Gebüsche flitzen sehen. Aber auch, wenn ich nicht weiß, was das ist... fühle ich mich sicher. Der Schmerz und all die Sorgen verblassen, als hätten sie nie existiert. Ich bleibe stehen, als ich blaue Blumen sehe. Sie sind wunderschön, aber ihre Art ist mir nicht bekannt. Ich knie mich davor hin und betrachte sie lächelnd. So zart und doch so widerstandsfähig. Was die Natur so von sich bringt, ist wirklich erstaunlich.

Ich stehe wieder auf und gehe weiter. Bewege mich vorsichtig, da ich mich hier nicht auskenne. Ein wunderschöner Ort, das muss ich zugeben. Eine leise Musik lässt mich aufhorchen. Ich bleibe stehen und lausche. Es klingt fast... wie eine Harfe. Eine Harfe in einem Wald? Langsam setze ich mich wieder in Bewegung und folge der Musik. Weiche von dem eigentlichen Pfad ab und schlage mich schon halb durch Büsche und Äste, ehe ich an einem kleinen See ankomme. Das Wasser spiegelt die Sonne. Seerosen schwimmen mit ihren Blättern auf der Wasseroberfläche. Das Ufer ist mit Gras bewachsen. Vereinzelt sind größere Steine zu sehen, die den See spicken. Neugierig gehe ich weiter und bleibe am Ufer stehen. Sehe mich um, kann aber nichts erkennen. Die Harfenmusik hat aufgehört. Aber sie kam eindeutig von hier.

"Es ist schön, dass eines meiner Kinder der Musik gefolgt ist.", ertönt eine sanfte Stimme und ich zucke zusammen. Reiße meinen Kopf hin und her und suche nach dem Ursprung dieser Stimme! Das Wasser fängt an zu brodeln und irritiert und auch ein wenig ängstlich, trete ich einen Schritt zurück. Meine Augen starr auf das Geschehen gerichtet. Die Wasseroberfläche wölbt sich. Es kommt etwas hervor! Es sieht aus wie... ein Thron...? Das Wasser fließt ab. Tropft schlussendlich nur noch in den See. Langsam richte ich mich wieder auf. Eine Frau sitzt auf dem Thron. Ihre Gesichtszüge weich. Ihr Lächeln herzerwärmend. Die Haare leicht gewellt. Sie hat einen... leicht grünlichen Touch. Und zwar alles. Die Haut. Die Haare. Die Augen. Das Kleid. Grün bis Türkis. Ein Vogel setzt sich fröhlich pfeifend auf den Thron, gleich neben den Kopf der Frau.

Die Frau sieht mich lächelnd an und nickt. "Ich bin stolz auf dich, Alexandra Ashe Kindred." Die Stimme... ist lieblich. Nicht einlullend, denn das hätte etwas Negatives. Nein. Rein positiv. "Zwar habe ich dich ins Leben gerufen, aber du wirst mich nicht kennen." Sie steht auf und Steine kommen aus dem See heraus. Elegant steigt sie bis zum Ufer. "Du kennst mich wahrscheinlich eher unter dem Namen 'Mutter Natur', mein liebes Kind." Okay... was halluziniere ich bitte vor mich hin? "Es ist eine lange Geschichte, aber in der Kurzfassung, die du sicherlich haben möchtest..." Sie streckt ihren Arm über dem Wasser aus und zeigt mir an, zu ihr zu kommen. Zögerlich folge ich und sehe auf die Wasseroberfläche. Mein eigenes Spiegelbild verschwimmt und etwas anderes taucht auf.

"Vor vielen Jahren, zu viele, um gezählt zu werden, gab es nur mich und Gevatter Tod. Unsere damaligen Namen sind irrelevant." Eine schwarze und eine türkise Gestalt tauchen auf und ich scheine wohl eine Geschichte vor mir zu haben. "Wir liebten uns und tun es noch immer. Aus unserer Liebe entspringen viele Kinder. Sie werden in die verschiedensten Dimensionen gebracht, um dort zu leben und das Leben zu genießen." Das Bild verschwimmt und es wird gezeigt, wie jemand umgebracht wird. "Da unsere Kinder unsterblich sind, sterben sie nicht wirklich. Sie wechseln in andere Dimensionen. In Dimensionen, in die wir sie schicken. Meist, um eine Aufgabe zu erledigen. Oder, um endlich ein friedliches Leben zu haben, welches sie in ihrem vorherigen Leben nicht hatten." Auch das Bild verschwimmt und ich kann mein Spiegelbild sehen. "Du bist unser jüngstes Kind, Alexandra. Deswegen hast du erst einen Dimensionswechsel hinter dir."

Wieder wird mein Bild unscharf und ein anderes wird gezeigt. Von dem Mann, der mich wohl ein zweites Mal getötet hat. "Das ist Zaroy. Eines unserer ältesten Kinder. Er ist das schwarze Schaf, wenn ich es so sagen darf.", erklärt sie und das Bild verschwimmt erneut. Szenen von weiteren Morden wird gezeigt. "Zaroy hat einen Weg gefunden, unsere Kinder und somit seine Geschwister zu töten. Nur mit viel Glück konnte dein Vater dich retten. Du erinnerst dich an den Dolch?" Ich nicke heftig. Wie kann ich das Ding vergessen, dass mich aufgeschlitzt hat? Hallo?! "Das ist die einzige Waffe, mit der man euch töten kann. Woher sie kommt und wer sie erschaffen hat, ist uns leider unbekannt. Aber Zaroy hat sie in seine Hände bekommen. Und sein Narzissmus ist größer, als ich es je bei jemandem gesehen habe. Er will der einzige sein, der zwischen den Dimensionen reisen kann." Wow. Was für eine dämliche Motivation.

"Aha... und ich soll ihn jetzt aufhalten?", frage ich und sehe von dem Wasser zu Mutter Natur, die mit einem getrübten Blick nickt. "Ja, das sollst du. Zaroy ist nicht mehr aufzuhalten." Etwas irritiert, verschränke ich die Arme. "Aber wenn ich die jüngste bin. Wie soll ich dann gegen einen der ältesten vorgehen?" Mutter Natur lächelt und legt eine Hand an meine Wange. Sofort fühle ich mich beruhigt. "Wir haben viele Kinder, die kämpfen können. Und das sogar sehr gut. Aber du bist die, mit dem stärksten Willen. Denn was zählt Kraft, wenn man den Willen nicht besitzt, diese Kraft einzusetzen?" Klingt schon irgendwie verständlich. "Aber... wie soll ich ihn aufhalten? Umbringen?" Sie sieht auf die Seite. "Es tut mir weh, dies zu sagen. Aber ja. Das ist der einzige Weg." Als sie mich wieder ansieht, läuft ihr eine Träne die Wange hinunter und sie lässt mich los. "Du wirst das schaffen. Ich werde dafür sorgen, dass du Hilfe erhältst." Bevor ich etwas sagen kann, werde ich von ihr gestoßen und falle rückwärts in den See. Panisch versuche ich, irgendwie zu schwimmen! Bekomme es aber nicht zustande, eine einzige Bewegung auszuführen. Ich kann nur zusehen, wie sich die Oberfläche und das Licht immer weiter entfernen und es dunkel um mich herum wird.

Die Jagd nach dem Dolch - Der erste TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt