Der rationale Typ

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"Alex! Kommst du endlich?", ruft Cedrik und ich komme mit den Händen voller Bücher zu ihm gelaufen. "Tut mir leid, wenn ich kurze Beine habe!", erwidere ich grinsend und schließe zu ihm auf. Mittlerweile sind gute zwei Monate vergangen. Ich wohne komplett bei Cedrik. Bin seine Assistentin geworden. Helfe mit dem, was er mir anschafft. Offiziell habe ich mein Gedächtnis noch nicht zurück. Aber das macht ihm nichts aus. Für mich ist er wie ein Bruder geworden. Ein Bruder, dem ich aber leider nicht alles erzählen kann. Wie oft habe ich mich in den Schlaf geweint, weil ich wahrscheinlich nicht mehr zurück komme? Wie oft bin ich in Gedanken versunken und habe meine Familie und meine Freunde vor Augen? Ich vermisse sogar die Arbeit. Die Technologie. Aber ich denke, dass ich mich gut eingelebt habe. Musste ich, um zu überleben.

Ich habe gemerkt, dass ich in vielerlei Hinsicht einfach nur der rationale Typ bin. Ich kann mich nicht auf die Vergangenheit beruhen. Ich lebe im hier und jetzt. Ich muss überleben. Was bringt es mir, in Gefühlen und Emotionen zu ertrinken, wenn ich hier eine Aufgabe habe? Und wenn sie nur aus Bücher tragen und in der Bibliothek sein besteht. Einkaufen. Ich lebe. Das ist mir im Moment wichtig. Klar ist mir durch den Schädel gerast, dass ich in meiner eigentlichen Welt tot bin. Wahrscheinlich zumindest. Ich habe hellbraune Hautveränderungen genau dort, wo ich mit dem Dolch oder Messer getroffen wurde. Eines direkt über meinem Herzen und eines quer über meinen Bauch. Für mich ein Zeichen, dass es Real ist. Scheiße, ich weiß. Aber es muss weitergehen. Oft sitze ich vor dem Haus auf einem Stuhl, starre ins Leere und denke an meine Familie. Vergessen werde ich sie nie.

Ein Schnipsen gegen mein rechtes Ohr lässt mich zusammenzucken. "Was bist du schon wieder in Gedanken?", brummt Cedrik und ich seufze. "Nichts wirklich interessantes...", erwidere ich und zucke mit den Schultern. "Nur die Frage, ob manche Frauen auf richtig dicke Männer eifersüchtig sind, weil sie mehr Oberweite haben, als sie." Perplex blinzelnd sieht Cedrik nach vorn und dann wieder auf mich. "Wie... Wie kommst du auf so was?!", fragt er und ich zucke mit den Schultern. "Ich habe keine beschissene Ahnung, mein bester." Eigentlich sollte er es gewöhnt sein. Sobald wir uns besser kennengelernt haben und wir uns geduzt haben, habe ich nicht mehr wirklich darauf geachtet, meine Gedanken zu verstecken. Manchmal konnte er es für Stellen in seinem aktuellen Buch gebrauchen. Manchmal hat er gefragt, ob ich einen Exorzisten brauche. Von allem etwas. Wieder sehe ich zu ihm. "Du solltest- Oh! Katze! Halt mal!", rufe ich, drücke ihm den Bücherstapel in die Hände und laufe zu der streunenden Katze.

Zumindest daran ist er schon gewöhnt und er verdreht nur die Augen. Lächelnd setze ich mich auf den Boden und kraule die orange-farbene Katze am Kopf. Schnurrend kommt sie näher, schnuppert mich ab und legt sich auf meinen Schoss. Katzen waren damals schon mein Ding und sind es immer noch. "Gott, bist du eine süße. Das bist du... ja, das bist du!" Während ich mit der Katze rede, geht meine Stimme hoch und ich bin glücklich. "Darf ich dich daran erinnern, dass wir heim müssen?", fragt der blondhaarige und ich sehe mit einer Schmolllippe zu ihm hoch. "Aber Cedrik... noch fünf Minuten!" Sein Blick wird kalt. "Das hast du heute in der Früh schon gesagt, als ich dich aufgeweckt habe. Und was war das Ende vom Lied? Du lagst da noch ne Stunde faul rum!" Als hätte Cedriks eine böse Aura von sich gegeben, springt die Katze auf und verschwindet in der nächsten Gasse. Ein wenig traurig sehe ich ihr nach, stehe aber auf. "Zufrieden?", brumme ich entgeistert, während ich mir die Hose abklopfe.

Im Haus angekommen, bringe ich die Bücher zum Nachschlagen in sein Arbeitszimmer und lege mich unten auf das Sofa. "Ach komm. So schlimm kann das jetzt nicht gewesen sein!", ruft Cedrik lachend und gibt mir ein Glas Wasser. "Wenn du mich weiter so schleppen lässt, kann ich hier bald alles hoch heben und bin stärker als du!", erwidere ich grinsend und kippe das Wasser runter. Er hingegen hält mir nur einen Zettel hin, als ich ihm das Glas gebe. "Mir würde es reichen, wenn du stark genug fürs einkaufen bist. Kannst du gleich noch gehen? Mir fehlt ein bisschen was und-" "Dir fehlt viel, Cedrik. Spezifiziere. Lebensmittel? Liebesleben? Haustiere?" Die blauen Augen sehen an mir hoch und runter. "Das gleiche könnte ich zu dir sagen. Wobei ich noch hinzufügen müsste, dass bei dir wohl die mentale Gesundheit abhandengekommen ist." Kontern kann er. Das muss man ihm lassen. "Ja, ja, ja. Ist ja schon gut.", brumme ich, stehe auf und nehme den Zettel.

Mit dem Korb in der Hand und dem Geld darin, gehe ich wieder raus und lese mir während des Gehens die Liste durch. An sich kann ich froh sein, dass er überhaupt mal eine Liste geschrieben hat. Normalerweise kümmere ich mich um das Einkaufen, weil er das vergisst. Es ist eher selten, dass er das mal macht. Heute scheint wohl ein guter Tag zu sein. Ich habe mich von dem Kleidungsstil, den ich anfangs hatte, nicht abbringen lassen. Eine braune Hose. Ein Leinenhemd. Und... ein Korsett. Wobei ich dahingehend auf ein gemütlicheres Exemplar umgestiegen bin, welches mir um einiges mehr Bewegungsfreiheit bietet! Und nicht so einschnürt. Das war immer ekelhaft, diese Druckstellen zu haben. Aber was solls. 19. Jahrhundert. Wuhu. Vielleicht muss ich zugeben, dass es doch nicht so meine Ära ist.

Der Markt ist innerhalb von zehn Minuten Gehweg erreicht und ich kann die ersten Einkäufe tätigen. Fleisch. Wurst. Käse. Obst. Gemüse. Milch. Eier. Mehl. Zucker. Salz. Ein paar Gewürze. Mit dem letzten Einkauf ist auch die Liste abgearbeitet und ich atme erleichtert auf. Ich habe alles und auch in den richtigen Mengen. Mit dem vollbeladenen Korb marschiere ich in Richtung Haus und bleibe stehen, als ich wieder die gleiche orange Katze sehe. Sofort gehe ich in die Hocke. "Hey, kleines! Komm her... Brav..." Lächelnd streiche ich dem Tier über den Rücken und kraule es ausgiebig. Schnurren ist wieder zu hören und es entspannt mich. Dann hebe ich meinen Kopf und erstarre. Ein bekanntes Earl-Butler-Gespann läuft in ein paar Metern Entfernung an mir vorbei. Und ich habe den Blick Sebastians direkt auf mir. Die roten Augen starren mir in meine Seele. Sollte ich noch eine besitzen.

Die Jagd nach dem Dolch - Der erste TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt