2 | California

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"Das kann jetzt nicht euer Ernst sein!" Entgeistert schaue ich meine Eltern an. Der erwartungsvolle Blick meiner Mutter verschwindet.

"Ich mache nächstes Jahr mein Abitur, dann kann ich auf eine Uni und ihr könnt umziehen." Meine Eltern wissen, wie wichtig mir ein guter Abschluss ist und deswegen verstehe ich nicht, warum wir ausgerechnet jetzt umziehen müssen. "Mein Chef hat mir ein einmaliges Angebot gemacht und du weißt, dass wir das Geld brauchen", erklärt mir mein Vater. "Ja, ich weiß.... Und wohin ziehen wir denn?", frage ich meine Eltern.

Ich hoffe, dass wir irgendwo in den Norden ziehen, dort ist es wenigstens kalt und es liegt hoffentlich Schnee.

"Nach Kalifornien", antwortet mein Vater. "Genauer gesagt nach Los Angeles ", ergänzt meine Mutter. Das kann jetzt nicht wahr sein. Ich meine, sie hätten sich auch jeden anderen Ort aussuchen können, aber müssen wir ausgerechnet nach L.A. in eine riesige Großstadt am anderen Ende der Welt?

Sie erzählen mir noch etwas darüber, wann es los geht und ein paar allgemeine Dinge über unser neues Zuhause dort, aber ab einem gewissen Punkt kann ich nicht mehr zuhören. Durch einen Satz haben sich meine Pläne in Luft aufgelöst.

Vor meinen Augen sehe, wie meine Zukunft in Deutschland an mir vorbei fliegt und ich kann nichts tun, um sie aufzuhalten. Die Vorstellungen, wie ich mein Abiturszeugnis in den Händen halte und meine Eltern mich umarmen, bis hin zu meinem Sitzplatz nächstes Jahr, habe ich alles bis aufs kleinste Detail durchgeplant. Und das wird nie mehr möglich sein.

Diese Erkenntnis trifft mich so plötzlich, dass ich mich an der Sofalehne festhalten muss. "Tut mir leid, aber ich muss jetzt mal kurz allein sein", sage ich zu meinen Eltern, die nicht bemerkt haben, dass ich vor einem halben Nervenzusammenbruch stehe.

Ich stürme die Treppe nach oben, zurück zu meinem Zimmer. Ein Zeichen dafür, dass ich ziemlich aufgewühlt bin, denn ich handle eigentlich nicht so impulsiv. Ich greife nach meinem Handy und wähle die Nummer von Marie.

Sie ist meine beste Freundin, schon seit ich denken kann. Das sie meine einzige Freundin ist, liegt wahrscheinlich daran, dass sie genau wie ich ein Streber und eher ein Einzelgängertyp ist. Mit den anderen Schülern aus meiner Stufe habe ich nicht viel zu tun. Ich bin so wie ein Schatten, der immer da ist, den man aber nicht wirklich wahrnimmt.

Nachdem ich ihr von den Neuigkeiten erzählt habe ist sie genauso entsetzt wie ich. "Das hätte ich gar nicht von deinen Eltern erwartet", gibt sie entrüstet von sich. "Mhm", nicke ich, um ihr zuzustimmen. "Wir haben zwar darüber gesprochen, dass wir vielleicht nach Amerika ziehen, aber ich wusste nicht, dass das jetzt so schnell geht."

"Wann geht es denn los", fragt mich Marie. "In einem halben Jahr, wenn die Sommerferien anfangen", antworte ich ihr. "Oh nein, dann haben wir nicht mehr viel Zeit uns richtig über alles zu informieren und dich bei Englisch Kursen anzumelden." Ich lächle leicht. Das ist genau die Reaktion, die ich mir erhofft habe.

Wenigsten kann ich mich auf meine beste Freundin verlassen, denke ich mir als wir fertig telefoniert haben und alles für die nächsten Monate bis zu meiner Abreise geplant haben.

✈︎~~~☁︎ 𝐄𝐢𝐧 𝐡𝐚𝐥𝐛𝐞𝐬 𝐉𝐚𝐡𝐫 𝐬𝐩𝐚̈𝐭𝐞𝐫 ☁︎~~~✈︎

Ich sitze im Flughafen von Berlin und warte mit meinen Eltern auf unser Flugzeug nach Los Angeles.

Unruhig rutsche ich auf meinem Sitzplatz des Wartebereichs für den Flieger hin und her. Einerseits weil ich extrem aufgeregt bin, schließlich wird der mein erster Flug meines Lebens und ich hoffe, dass wir nicht abstürzen. Andererseits sind die Sitzplätze hier knochenhart und ziemlich unbequem sind.

In den letzten Monaten habe ich erfolgreich meinen Englischkurs abgeschlossen, wie zu erwarten mit Bestnoten und einem Lob des Kursleiters.

Auch mit meinem Zeugnis der 11. Klasse bin ich ziemlich zufrieden. Ich habe meine ganze Motivation fürs Lernen verwendet, damit ich, nächstes Jahr zurück in Deutschland, ein gutes Zeugnis für die Uni habe.

Genau das ist nämlich auch mein Plan in der amerikanischen Schule. Lernen, lernen und noch viel mehr lernen.

Viele halten mich wahrscheinlich für einen Streber, der möglichst erfolgreich im Leben sein will und ein ziemlicher Stubenhocker ist. Das stimmt natürlich auch.

Der Grund dafür ist, dass ich durch ein gutes Abi theoretisch einen guten Start in mein späteres Berufsleben habe und ich mich nicht wie meine Eltern von ganz unten hocharbeiten muss. Ich komme jetzt wahrscheinlich spießig rüber, aber ich bin numal ein Mensch der eher in der Zukunft lebt, als in der Gegenwart.

Gestern war der schlimmste Tag des letzten halben Jahres nämlich, als ich mich von Marie verabschieden musste. Da sie meine einzige Freundin hier ist, war der Abschied umso schmerzvoller.

Sie kam heute extra nicht mit zum Flughafen, weil wir beide sonst wahrscheinlich wie Wasserfälle geweint hätten, aber wir wollen auf jeden Fall oft telefonieren.

Gleich geht es erst mal in den Flieger nach LA und irgendwie bin ich aufgeregt und freue mich sogar schon ein bisschen auf das, was mich dort erwarten wird. Obwohl ich immer noch glaube, dass das Flugzeug abstürzen wird.

Das ist auch das Letzte, an das ich später im Flugzeug denke, bevor ich einschlafe....
...und durch einen plötzlichen Ruck aufwache, wodurch ich meinen Kopf an mein Fenster im Flieger knalle.

Aua.

Als ich meine Augen öffne kann ich die Hochhäuser von LA erkennen. Wenn das nicht mal ein toller Start in mein neues Leben in Los Angeles ist...

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