Verkommene Gesellschaft

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Nein.
Unmöglich.
Ist das tatsächlich wahr?!
Ohne noch eine Sekunde zu zögern, erhebe ich mich und nähere mich mit schnellen Schritten der Glaswand, hinter welcher der atemberaubende Trubel stattfindet.
Die anderen Menschen um mich herum bleiben brav auf ihren vorhergesehenen Sitzplätzen.
Mit großen Augen beobachte ich die Männer in dunkelblauer Uniform, speziell nun meinen Vater, welcher seine Worte an den Henker richtet.

"Die Justiz der Vollstreckung der Todesstrafe wird in ihrem derzeitigen Vorgang offiziell unterbunden. Der verurteilte Häftling Jeffrey Woods wird als Zeuge eines schwerwiegenden Banküberfalles diesbezüglich vorerst von der Vollstreckung der Todesstrafe auf dem elektrischen Stuhl freigestellt.", ruft mein Vater durch den eisigen Raum, um etwas Klarheit zu verschaffen.

Anschließend bleibt sein Blick für eine Sekunde an Jeffs ruhigem Körper hängen, ehe sein Blick in meine Richtung schleicht.
Meine Augen funkeln.

"Führt ihn ab.", befehlt mein Vater und verlässt zunächst monoton den Raum mit zwei weiteren Polizisten.

Sprachlos stehe ich wie angewurzelt vor der Glaswand.
Ich kann es schlichtweg nicht fassen.
Jeff lebt.
Er lebt!
Er ist gerettet!
Ich habe ihn gerettet!
Mein Vater hat meinen Worten Glauben geschenkt!
Meine Augen werden glasig und ich schniefe dankbar.
Ich würde meinem Vater gerade so unglaublich Dankbarkeit schenken.
Ihn in den Arm nehmen.
Sein einst braves Mädchen sein.
Doch ich muss meinen Schein wahren.
Denn dieses Mädchen bin ich nicht mehr.
Hingezogen zu einem Serienmörder.
Das ist mein neues Ich.
Ich drehe diesem furchtbaren Raum hinter der Glaswand den Rücken zu und bemerke, wie die anderen Leute enttäuscht den Raum verlassen.
Ihre Miene wirkt bedrückt, als hätten sie sich über den Tod eines weiteren Menschen erfreut.
Sie sind der wahrhaftige Schandfleck in dieser verkommenen Gesellschaft.
Menschen, welche die Todesstrafe befürworten.
Doch das spielt für mich nun keine Rolle mehr.
Jeff wurde verschont.
Und er weiß von diesem Plan.
Jedoch existiert noch ein großer Makel in unserem Vorhaben.
Wie soll Jeff eine Aussage machen, wenn er überhaupt nichts von diesem Banküberfall mitbekommen hat?
In Ordnung, Alicia.
Ich muss positiv denken.
Möglicherweise kann ich ihn irgendwie befreien.
Einen kleinen Fehler im System auslösen, sodass er fliehen kann.
Doch dafür brauche ich etwas Bedenkzeit.
Diese kann ich bloß erlangen, wenn Jeff auch seinen Mund hält.
Die Aussage vorerst verweigert oder dergleichen.
Auch ich verlasse jetzt den Raum und trete meine Heimreise an. Dennoch wird mein Aufenthalt dort nicht sonderlich lange anhalten, schließlich habe ich eine Flucht zu planen und umzusetzen.
Ich werde das schaffen.
Ich will das schaffen.

[...]

Ich sitze mit angewinkelten Knien auf meinem Schreibtischstuhl und kaue nachdenklich auf meinem Stift herum.
Starr blicke ich auf ein leeres Blatt Papier.
Irgendetwas muss mir doch einfallen.
Doch in diesem Fall bin ich nun wirklich ratlos.
Eine halbe Stunde vergeht, als ich plötzlich höre, wie die Haustür unten aufgeschlossen wird.
Mein Vater!
Ich erhebe mich schlagartig von meinem Stuhl und eile die Treppen hinunter.
Er sieht mich, sagt jedoch kein Wort, wendet sich von mir ab und läuft in Richtung seines Arbeitszimmers.

"Ich habe nur einigen Papierkram vergessen", zischt er mir kalt zu.

Ich weiß, er mag nicht stolz auf mich sein.
Ich habe ihm möglicherweise einiges an Arbeit aufgetischt, dennoch hat er mir einen großen Vertrauensbeweis erwiesen.
Dafür bin ich ihm dankbar.
Ich denke, es ist das Mindeste,  dass ich mich bei ihm bedanke.
Vorsichtig taste ich mich bis hin zu seinem Arbeitsplatz vor.
So weit, bis ich letztlich vor ihm und seinem Schreibtisch stehe.

"Ähm, Dad?"

Er blickt mich nur einmal kurz an, ehe er weiter in seinem Papieren herumkramt.
Seine Aufmerksamkeit liegt nicht auf mir.
Dennoch fahre ich fort.

"Also ich wollte mich bedanken. Dafür, dass du mir-"

Aber mein Vater lässt mich nicht einmal ausreden.
Schnaufend unterbricht er mich, offenbar genervt von meiner Dankbarkeit.
Von meinen Worten.
Meiner Stimme.
Für ihn scheint die Situation peinlich.
Unangenehm, dass seine eigene Tochter den Todeszeitpunkt eines Mörders verschoben hat.

"Hör zu, Alicia. Ich habe das nicht für dich getan, um Gottes Willen. Ich habe gehandelt, weil dieser Mann womöglich bei einem Verbrechen als wichtiger Zeuge dienen könnte. Wenn es nach mir ginge, nach meinen Gelüsten und dieser elende Mörder kein Zeuge wäre, wäre er schon lange nicht mehr am Leben"

Heartbeat (Jeff the Killer Lovestory)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt