5 - Oberflächliche Teenagerbeziehungen
Der September tröpfelte vor sich hin. Langsam aber sicher kamen alle Schüler wieder in den Alltag hinein. Die neuen Siebtklässler hatten sich eingefunden, standen nicht mehr völlig hilflos auf dem Campus herum, weil sie sich verlaufen hatten und auch die Heimweh-Tränen in den Gemeinschaftsräumen waren auf ein Minimum gesunken.
Alles in allem war also das normale Leben ins Internat zurückgekehrt. Hope hatte sich daran gewöhnt, in der Oberstufe zu sein und kämpfte mit den Unmengen an historischen Fakten, wie schon jeder andere Schüler im elften Jahr im Geschichts-Leistungskurs vor ihr. Sie kannte die Zwillinge, deren Nachname Kudrjawzew war, wie Hope mittlerweile herausgefunden hatte (sie musste zugeben, dass Jelas unfreundlicher Spitzname nicht ganz ungerechtfertigt war), seit drei Wochen. Mit Jela traf sie sich durch den zunehmenden Lernstoff und das Näherrücken der ersten Klausuren nicht mehr ganz so oft, wie am Anfang, wo sie sich fast jeden Tag gesehen hatten, aber dennoch mehrfach die Woche.
Sie lernten zusammen, Jela half ihr mit den Brüdern Karamasow, Hope las ihre Deutschaufsätze Korrektur und sie unterhielten sich über alles Mögliche.
Mit Grischa traf sie sich nicht geplant, aber er schaffte es immer öfter, sie auf dem Weg zur Schwimmhalle abzupassen und wann immer sie sich auf dem Gang sahen, berichtete er ihr aufgeregt von seinem Tag, einer Idee, die ihm gekommen war oder einer Hausaufgabe, die er nur zwei Tage verspätet abgegeben hatte.
Überrascht stellte Hope fest, dass sie es offenbar tatsächlich geschafft hatte, zwei neue Freundschaften zu schließen, ohne wirklich etwas dafür zu tun. Bei dem Gedanken musste sie immer breit grinsen. Völlig unabhängig voneinander brachten die beiden ein bisschen Wirbel in Hopes Leben. Nun, Jela brachte ein bisschen Wirbel – Grischa stürzte es schlichtweg ins Chaos. Oder zumindest hatte Hope das Gefühl, dass es nicht mehr allzu lange dauern konnte, bis das passieren würde.
Alles in allem wurde sich Hope bewusst, wie langweilig ihre Sommerferien gewesen waren. Sicher, sie hatte Amélie und deren jüngere Schwester Louise, ihre Cousinen, mit denen sie ihre meiste Zeit verbracht hatte. Aber auch die beste Freundin konnte einem nach sechs Wochen auf den Geist gehen. Dann war da natürlich noch Leo gewesen, den sie wirklich lieb hatte und mit dem sie viel gespielt hatte, aber er war eben erst fünf. Und er war tagsüber im Kindergarten, was bedeutete, dass sie nur abends Zeit miteinander verbringen konnten und dann waren auch ihre Eltern da. Und während Hope zu ihrem Vater eine normale Papa-Kind-Beziehung hatte, war die Situation mit ihrer Mutter...schwieriger.
Wie auch immer, das alles führte auf jeden Fall dazu, dass Hope jetzt ein klares Defizit an sozialen Kontakten hatte, was bedeutete, dass sie jede freie Minute entweder mit Jela oder mit ihren Mädels verbrachte (plus die stets ungeplanten, aber nie unerwünschten Zusammenstöße mit Grischa).
An einem Freitagabend Ende September saßen die vier Mädchen aus Zimmer 3 eben dort zusammen. Alina hatte irgendwann einen kleinen Fransenteppich mitgebracht, den sie zentral in den Raum gelegt hatten. Über die Jahre hatten sich hier außerdem Berge von Kissen angesammelt, in, auf und zwischen denen die Elftklässlerinnen es sich jetzt bequem gemacht hatten.
Alina hatte auf ihrem Bett eine regelrechte Kissenburg um sich herum gebaut und halb saß, halb lag sie darin, die Augen geschlossen und einen Roman mit dem Buchrücken nach oben auf ihrem Bauch liegend, in dem sie hin und wieder eine Seite las, wenn das Gespräch eine Pause nahm.
Sophia saß auf dem Teppich im Schneidersitz mit dem Rücken zur Heizung und hatte ein riesiges, quadratisches, dunkelrotes Tuch im Schoß, dessen Rand sie mit unterschiedlichen Farben bestickte. Hin und wieder sah sie böse zu Alina hinüber, da sie es für eine Todsünde hielt, Bücher mit dem Rücken nach oben irgendwo abzulegen, besonders auf einem Bett und ganz besonders, wenn man sich selber auch darin befand.
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Schmetterlinge fürchten sich nicht
Teen Fiction(vorher veröffentlicht als "Schritte im Sand") Hope ist hin und weg, als sie die Kudrjawzew-Zwillinge kennenlernt. Denn die beiden rütteln ihr monotones Internatsleben ganz schön wach. Während Jela ihr mit ihren Russischvokabeln hilft und sich zwisc...