9 - Eine professionelle Meinung

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9 - Eine professionelle Meinung

„...und dann haben wir uns geküsst."

Hope spielte am Reißverschluss ihrer Federtasche herum. Amélie neben ihr quietschte leise.

„Uh, seid ihr jetzt zusammen?", fragte sie sofort neugierig. Hope zuckte mit den Schultern. Es war über zwei Wochen her, dass sie mit Grischa in der Stadt gewesen war. Sie hatten sich im Verlauf dieser Zeit einige Male getroffen und Hope war ein bisschen überrascht, wie wenig sich eine Beziehung (so man das nach zwei Wochen wirklich schon so nennen konnte) von einer Freundschaft unterschied. Nun, da gab es das Küssen, ja. Aber sonst machte sie mit Grischa das Gleiche, wie vorher – sie unterhielten sich, er begleitete sie auf ihrem Weg zur Schwimmhalle und sie schaute in der Pause zu, wenn er Fußball spielte, während sie sich mit ihren Freundinnen oder Jela unterhielt.

„Wir haben da jetzt nicht drüber geredet.", erklärte Hope Amélie, der sie jetzt nach zwei Wochen doch erzählt hatte, was an dem Samstag in der Stadt vorgefallen war. „Aber wir haben uns ein paarmal geküsst und wenn wir zusammen zum Schwimmen gehen, nimmt er jetzt immer meine Hand."

Amélie wirkte so glücklich, als wäre es gar nicht Hope, die eine frische Beziehung hatte, sondern sie selbst.

„Und?", drängelte sie dann weiter. „Küsst er gut?"

Hope sah sie nachdenklich an. Die Küsse waren...angenehm. Sie waren nicht das Feuerwerk, was in Büchern immer beschrieben wurde, aber das war vermutlich sowieso unrealistisch. Hope hatte nicht wirklich einen Vergleich, schließlich hatte sie noch nie zuvor jemanden geküsst. Aber sie küsste Grischa gerne, also nickte sie.

„Ja, er küsst gut.", bestätigte sie und ihre Cousine grinste breit.

Die beiden Mädchen saßen nebeneinander im Klassenraum, in dem in wenigen Minuten der Sonderkurs beginnen würde. Hope hatte die Gelegenheit genutzt, ihre beste Freundin in ihre neue Beziehung einzuweihen, ohne gleich noch Sophias und Alinas Meinung gratis dazu zu bekommen. Das war schwerer als gedacht, wenn man sich ein Zimmer teilte. Aber Hope war letztes Jahr auch oberste Beraterin gewesen, als Amélie ihre Beziehung mit Ollie begonnen hatte, also fand sie es nur gerecht, dass ihre Cousine diesen Gefallen erwiderte. Apropos...

„Wie geht es eigentlich Ollie?", fragte sie. Amélie seufzte.

„Gut. Wir haben vor ein paar Tagen geschrieben, da war er in Ägypten und wollte eine Karawane durch die Wüste begleiten. Deshalb hat er jetzt auch wieder mal kein Internet.", berichtete sie. „Aber er hat versprochen, dass wir skypen, sobald er wieder kann."

Ollie Skott kannten sie noch aus Kindheitstagen. Er lebte in ihrer Nähe und Amélies Vater war sein Patenonkel, weshalb er ziemlich oft zum Spielen bei ihnen war. Mit dreizehn hatte er dann beschlossen, nicht mehr zu Hause wohnen zu wollen und den Wunsch geäußert, aufs Internat zu gehen. Und nachdem er Hope und Amélie ein Jahr lang vorgeschwärmt hatte, wie toll es hier war, waren sie ihm nach der sechsten Klasse gefolgt.

Letztes Jahr hatte es dann zwischen ihm und Amélie zu knistern begonnen und kurz vor Weihnachten waren sie zusammen gekommen. Blöderweise hatte Ollie sieben Monate später sein Abi in der Tasche und den Entschluss gefasst, die Welt zu sehen. Aber selbst wenn er in ihrer Heimatstadt Hamburg geblieben wäre, wäre er jetzt fünf Fahrtstunden von ihnen entfernt, also vermutete Hope, dass die beiden sich auch dann nicht öfter gesehen hätten.

Hope fragte sich unwillkürlich, wie das wohl mit ihr und Grischa werden würde, wenn sie in zwei Jahren noch zusammen wären. Schließlich war er ein Jahr jünger als sie und würde dementsprechend ein Jahr nach ihr die Schule verlassen (wenn er nicht nach der zehnten schmeißen würde, was sie sich bei seiner aktuellen Arbeitsmoral auch vorstellen konnte). Sie schüttelte den Kopf. Das war ja noch in weiter Zukunft – sie und Grischa waren gerade einmal sechzehn Tage zusammen (wobei sie ja nicht einmal das definiert hatten), da war es völlig sinnfrei, darüber nachzudenken, was in einigen Jahren sein würde.

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als die Tür zum Klassenzimmer aufging und zwei Herren hineinkamen. Es waren die Professoren, die vermutlich der Grund waren, warum sich am Ende doch noch einige Schüler für den Kurs eingetragen hatten. Der eine sah aus, wie ein zerstreuter Wissenschaftler – brauner Anzug, runde Brille, die ihm auf der Nasenspitze saß, etwas schüttere Haare, die in alle Richtungen abstanden und eine arg abgewetzte Aktentasche, an der offenbar schon eine Schnalle kaputt war, denn sie wurde mit einem Haargummi an Ort und Stelle gehalten. Der andere war sicher etwas älter und wirkte sehr seriös mit seinen angegrauten Haaren, seinem makellosen Jackett und der schnurgeraden dunkelblauen Krawatte.

Hope und Amélie tauschten ein aufgeregtes Lächeln. Sie beide fanden die Thematik des Kurses wahnsinnig spannend, denn während tote Sprachen als Fächer einzeln gesehen doch sehr theoretisch waren und sie teilweise nicht ganz nachvollziehen konnten, wann sie jemals eine solche Sprache brauchen würden, erhofften sie sich von diesem Kurs viele interessante Vergleiche und Analysen.

Während die beiden Professoren ihre Materialien auspackten, ließ Amélie ihren Blick über die anderen Schüler schweifen, die es jetzt, wo der offizielle Stundenbeginn nur noch zwei Minuten entfernt war, auch endlich schafften, sich im Klassenraum einzufinden. Es waren, wie sie prophezeit hatten, vor allem Elftklässler.

„Sag mal, weißt du, ob noch jemand teilnimmt, den wir kennen?", fragte sie. Hope zuckte mit den Achseln.

„Ich weiß, dass ein paar Jungs teilnehmen wollten und da vorne ist Pauline mit ein paar Anderen aus ihrem Zimmer." Sie sah sich ebenfalls um und suchte mit den Augen die Menge nach dunklen Zöpfen ab. Da sie ja mit Amélie dieses Projekt zu zweit machen wollte, hatte sie Jela nicht darauf angesprochen, ob sie auch teilnehmen würde. Aber die Professoren begannen mit ihrer Stunde und Jela tauchte nicht auf.

Der Unterricht selbst war anders, als Hope erwartet hatte, aber trotzdem interessant. Am Ende der Stunde war sogar ein kleiner praktischer Teil, wo sie einige lateinische und altgriechische Phrasen und Sprichwörter lernten. Sie wusste ohne Zweifel, dass das der Teil war, an dem Amélie ihre meiste Freude hatte und war sich sicher, dass ihre Freundin in den nächsten Wochen bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit jedes einzelne dieser Sprichwörter benutzen würde.

Hope erinnerte der Kurs vor allem daran, was sie an Sprachen faszinierte und warum sie auch nach drei Jahren Jammern über das russische Vokabular, die Schrift und die Grammatik, immer noch voller Eifer daran arbeitete, auch dieses Monster von Sprache irgendwann zu bezwingen. Und jetzt, mit Jelas Hilfe, wirkte das sogar gar nicht mehr so unrealistisch.

Dieser Gedanke führte Hope, während sie nach Ende des Unterrichts durch die Korridore streifte, zielsicher zu ihren Überlegungen um Jela herum zurück. Ihre Zweifel bezüglich der Freundschaft mit ihr waren im letzten Monat nach und nach beinahe verflogen, denn je mehr Zeit sie miteinander verbrachten, desto offener wurde auch Jela. Offenbar, dachte Hope, hatte sie selbst auch einen gewissen Einfluss auf das andere Mädchen. Jela wurde freundlicher. Selbstverständlich blieb sie ihrem Charakter in vielen Dingen treu und mochte und brauchte ihre Zeit für sich. Sie war eben kein besonders sozialer Mensch, aber damit, hatte Hope beschlossen, konnte sie leben.

Sie sah nach draußen. Gerne hätte sie einen Spaziergang gemacht, um ihre Gedanken zu ordnen, aber es schüttete wie aus Kübeln. Also machte sie sich auf den Weg in die Bibliothek, um dort zu beginnen, die Stunden, die sie durch den Sonderkurs verpasst hatte, nachzuholen.

Schmetterlinge fürchten sich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt