6 - Das Paradox der wahren Liebe

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6 - Das Paradox der wahren Liebe

Hope hatte Grischa nicht gefragt, ob er mit ihr in die Stadt fahren würde. Sie redete sich selbst ein, dass es nicht der richtige Zeitpunkt gewesen war, aber sie wusste sehr gut, dass das nicht das eigentliche Problem war. Sie hatte im Kopf, was ihre Freundinnen gesagt hatten und ein Teil von ihr wollte nichts lieber, als eine dieser oberflächlichen Teenager-Beziehungen zu führen. Aber da war eben noch ein anderer Teil, der ihr leise zuflüsterte, dass es nicht das war, was sie wollte. Sie wollte eine ernsthafte Beziehung mit Zukunft und ja, sie war erst sechzehn, aber war es so falsch, von der wahren Liebe zu träumen?

Genau diese Frage spukte ihr seit einigen Tagen im Kopf herum und ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte, stellte sie sie eines Tages.

„Findest du es albern, an die wahre Liebe zu glauben?", platzte es einfach aus ihr heraus. Jela sah sie lange an und tippte sich mit ihrem Bleistift gegen die Lippe.

„Albern?", fragte sie. „Nein. Aber ich tu's nicht."

Und sie wandte sich wieder ihren Notizen zu.

Hope war mehr als unzufrieden mit diesem kurzen Gespräch. Allerdings hatte sie mit Jela auch noch nie über dergleichen geredet. Allgemein waren ihre Themen immer recht unpersönlich geblieben, was sie bisher nicht gestört hatte – jetzt aber schon.

„Warum nicht?", fragte sie deshalb mit Nachdruck. Jela sah überrascht wieder von ihrem Büchlein auf.

„Willst du da jetzt wirklich drüber reden?", wollte sie wissen, aber es klang nicht genervt, sondern sie nutzte einen Tonfall, mit dem Hope rein gar nichts anfangen konnte. Es war das Tonfall-Äquivalent eines Poker-Face'.

„Naja, ich habe darüber nachgedacht und könnte eine zweite Meinung gut gebrauchen." Sie zuckte mit den Schultern und schob den Gedanken weg, dass es seltsam war, über ihre potenzielle Beziehung mit Grischa mit seiner Schwester zu reden. Aber Hope hatte ja nicht vor, ihrer neuen Freundin das auf die Nase zu binden. Und außerdem interessierte es sie auch ehrlich, was Jela zu diesem Thema sagen würde.

Jela schlug ihre Notizen zu, legte sie zusammen mit ihrem Bleistift in die Tasche und drehte sich zu Hope, als Zeichen, dass die jetzt ihre volle Aufmerksamkeit hatte.

„Du glaubst daran, dass man irgendwann seine zweite Hälfte finden kann, mit der man glücklich bis ans Ende seiner Tage lebt?", fragte sie, weniger sarkastisch als Hope es erwartet hätte, aber doch nicht ganz frei davon.

„Ich hoffe es.", gestand Hope. Sie hatte sich im letzten Monat schon selbst zusammengereimt, dass Jela offenbar kein Mensch war, der viel über Gefühle redete. „Wäre es nicht irgendwie schön?"

„Vermutlich eher zu schön um wahr zu sein." Jela verdrehte leicht die Augen. „Ich meine, klar, es wäre cool, wenn man wüsste, dass man einen Seelenverwandten hat. Aber sein wir ehrlich, ist es nicht auch ein bisschen spannend, wenn man eine Beziehung mit jemandem beginnt und nicht genau weiß, ob man ewig zusammenbleibt? Man glaubt und hofft, dass man jemanden gefunden hat, mit dem man alt wird. Aber wissen tut man es nie."

„Und denkst du, man sollte eine Beziehung mit jemandem führen, auch wenn man nicht für immer mit ihm zusammenbleiben will?"

Jela runzelte die Stirn.

„Ich denke, das sollte jeder selbst entscheiden." Sie musterte Hope einige Augenblicke. „Du wirkst auf mich nicht, wie so jemand."

Hope atmete erleichtert auf. Ob Jela nun recht hatte oder nicht, das war es gewesen, was sie hatte hören wollen. Jetzt stand sie nur im Dilemma, dass sie von außen zwei Meinungen hatte – ebenso förderlich also, wie die immer länger werdende Pro-und-Kontra-Liste in ihrem Kopf.

„War das hilfreich?", fragte Jela mit einem Schmunzeln. Hope zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung.", meinte sie leise und nachdenklich. Jela lächelte und griff dann wieder nach ihrem Buch. Hope war irritiert. Das andere Mädchen war noch ein Jahr jünger als sie...und doch behandelte sie dieses Thema wie eine Kleinigkeit. Ein solches Gespräch hätte sich Hope mit ihrer Großmutter Hedwig vorstellen können, aber doch nicht mit einer Fünfzehnjährigen!

„Was ist mit dir?", fragte sie also. Jela sah überrascht auf.

„Mit mir?", fragte sie. „In Sachen...Liebe und so?"

Hope befürchtete, dass sie einen Schritt zu weit gegangen war. Ihre Freundschaft war noch neu und instabil, ein Schuss zu weit in die Privatsphäre konnte das Gerüst leicht zum Einstürzen bringen.

„Ja.", sagte sie trotzdem, wenn auch etwas zögerlich. Jela sah sie lange an. Ihre Bernsteinaugen bohrten sich in Hopes graue und sie hatte das Gefühl, dass die Blicke ein Kribbeln hinterließen, wo immer Jela sie gerade betrachtete.

Fast dachte Hope, Jela hätte ihre Frage vergessen, als die meinte:

„Nicht mein Gebiet."

„Bitte was?", fragte Hope irritiert.

„Liebe...Dates...süße Jungs und der ganze Kram...ist einfach nichts, wofür ich mich begeistern kann. Vielleicht, wenn ich irgendwann den Richtigen kennenlerne...aber im Moment habe ich weder das Bedürfnis noch den Wunsch, mich mit solchen Dingen vom Lernen abzulenken.", erklärte Jela. Hope blinzelte. Das war bei weitem das Persönlichste, was ihre Freundin bisher zu ihr gesagt hatte. Jela sah sie noch einen kleinen Moment länger an und raffte dann eilig ihre Sachen zusammen. „Ich muss jetzt los, wir sehen uns!"

„Ja...", murmelte Hope. Jela stand auf und war schon fast zur Tür hinaus, als Hope rief: „Warte!"

Jela drehte sich noch einmal um und sah sie erwartungsvoll an.

„Treffen wir uns morgen früh?", fragte sie. Sie wollte sicher gehen, dass Jela ihr nicht böse war, wegen des Themas. Jela schüttelte bedauernd den Kopf.

„Sorry, morgen ist Sonntag.", sagte sie, als sei das eine vollständige Erklärung. Auf Hopes ratlosen Blick hin ergänzte sie noch: „Ich bin vormittags in der Kirche."

Hope blinzelte kurz überrascht. Sie hatte nicht gewusst, dass Jela gläubig war. Erst recht nicht so gläubig, dass sie jeden Sonntag in die Kirche ging.

„Wir könnten uns nachmittags treffen, wenn du willst?", schlug Jela dann vor und Hope nickte sofort. Jela lächelte. „Prima, dann bis morgen!"

Sie verschwand und Hope sah ihr nachdenklich hinterher. Sie dachte über Jelas Antwort auf ihre Frage nach. Nicht mein Gebiet. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass dahinter mehr steckte, als sie dachte.



So, ich lebe noch und ihr bekommt heute das kürzeste Kapitel dieser ganzen Geschichte. Dafür kommt nächsten Dienstag das absolut längste, also vielleicht ist das ein Ausgleich. Ich hoffe, es hat euch gefallen, auch wenn es jetzt nicht sonderlich spektakulär war. Das nächste Kapitel bringt schon mal den ersten Handlungsstrang, den noch keiner von euch kennt und ich bin echt gespannt, was ihr dazu sagt. Und nächsten Donnerstag bin ich mir sicher, dass sich diejenigen von euch, die Rain II gelesen haben, reihenweise bei mir beschweren werden, wenn die Handlung endgültig von der damaligen Geschichte abdriftet XD. 

Schmetterlinge fürchten sich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt