11 - Spontane Entscheidungen

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11 - Spontane Entscheidungen

Die restlichen Ferien vergingen wie im Flug. Hopes Beziehung zu ihren Eltern war besser denn je, auch wenn die Anmerkung über ihre „Normalität" einen kleinen Schatten darüber warf. Hope wusste nicht einmal genau, was sie an dieser Aussage so traf – aber sie hatte auch beschlossen, dass sie eine einzige Meinungsverschiedenheit ignorieren konnte, wenn sie damit die noch etwas wackelige Brücke, die sie zu ihrer Mutter aufgebaut hatte, aufrecht erhalten konnte. Also hatte sie die Wendung des Gespräches in die hinterste Ecke ihres Kopfes geschoben und sich einfach in das ungewohnt harmonische Familienleben fallen gelassen.

Trotzdem war sie nach zwei Wochen daheim froh, wieder ins Internat zu fahren, einfach um die Anderen wieder zu sehen. Mit Grischa hatte sie die ganzen Ferien nur geschrieben, da er in St. Petersburg bei seiner Tante gewesen war und die Internetverbindung dort für ein Skype-Gespräch einfach nicht ausgereicht hatte. Sie hatten es am ersten Wochenende probiert, aber es hatte nicht geklappt. Dafür bombardierte er sie mit Fotos aus der Stadt und der Umgebung und jede Menge Selfies, die allesamt verwackelt waren.

Jela war im Gegensatz zu ihrem Bruder in Deutschland geblieben und hatte eine Internetverbindung, die stabil genug war, dass sie und Hope beinahe täglich miteinander reden konnten. Und wenn sie nicht telefonierten, dann schickten sie Memes, Posts und Links zu interessanten Artikeln hin und her.

Zurück in der Schule fielen sie alle langsam in ihr alltägliches Leben zurück. Hope frühstückte mit den Mädchen aus ihrem Zimmer, sie gingen gemeinsam in den Unterricht, von dem Hope die meisten Fächer mit mindestens einer ihrer Freundinnen gemeinsam hatte. Nachmittags lernte sie manchmal im Gemeinschaftsraum, immer häufiger aber auch in der Bibliothek mit Jela zusammen. Manchmal saßen sie bis in den Abend und gingen dann zusammen zum Essen, an anderen Tagen traf sich Hope später mit Grischa, der es nie versäumte, sie zum Schwimmbad zu begleiten, sich aber immer häufiger auch das Abendessen davor oder danach mit Hope sicherte. Die Samstage verbrachte Hope mit Lernen, den Mädels oder Jela, oft auch eine Kombination daraus, während die Sonntage meist für Grischa reserviert waren.

Es war durchaus ein alltägliches Leben, an das Hope sich gerne gewöhnte. Sie war im Internat nie wirklich einsam gewesen, aber jetzt hatte sie so viele Menschen um sich herum, dass sie wirklich selten allein war – und das störte sie überhaupt nicht, im Gegenteil.

An einem Dienstag Mitte November war Hope auf dem Weg in die Bibliothek, wo sie sich sicher war, Jela zu finden. Die hatte ihr vor Hopes letzter Deutschklausur einige ihrer Geheimtipps für eine gute Erörterung gegeben und Hope war mehr als aufgeregt, ihr mitzuteilen, dass sie tatsächlich zwölf Punkte geschrieben hatte.

Jela wartete bereits auf sie. Nicht dass es danach ausgesehen hätte. Sie hatte sich wie immer zwischen Büchern verschanzt und arbeitete mit ihren beiden Händen parallel an zwei verschiedenen Dingen.

Es war Hope am Anfang, als sie Jela getroffen hatte, gar nicht aufgefallen, aber meist schrieb sie mit ihrer rechten Hand etwas für die Schule, ein Essay oder einen Aufsatz. Und ihre linke füllte ihr kleines Notizbuch mit chaotischen Reihen kyrillischer Buchstaben. Hope hatte immer nur kurze Blicke darauf erhaschen können und um ehrlich zu sein war Jelas Schrift zu unordentlich, als dass Hope kopfüber und auf Russisch ernsthaft etwas davon lesen konnte. Aber ihr Eindruck war es, dass Jela Gedichte schrieb.

Anfangs war Hope sehr unsicher gewesen, ob sie ihre Freundin in diesen Momenten stören durfte, aber später hatte sie herausgefunden, dass die Russin oft nur so aussah, als wäre sie schwer beschäftigt, während sie eigentlich wartete. So auch heute. Kaum dass Hope um die Ecke kam, legte Jela Füller und Bleistift beiseite.

Hope ließ sich neben ihr auf einen Stuhl fallen, stellte ihre Tasche auf den Boden und legte ihren Roman auf den Tisch. Die Brüder Karamasow hatte sie mittlerweile, nicht zuletzt dank Jelas Unterstützung, beinahe zu Ende gelesen (beinahe war in diesem Kontext allerdings relativ – sie war auf Seite 800 von 1000).

Schmetterlinge fürchten sich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt