26 - Normal

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26 - Normal

Hope hatte gerade ihr Frühstück mit Grischa beendet. Nicht, dass sie wirklich Appetit gehabt hätte. Sie hatte die ganze Nacht wachgelegen, mit sich selbst gerungen. Das Ergebnis war gewesen, dass sie jetzt nur noch entschlossener war, sich selbst und allen anderen zu beweisen, dass alles in bester Ordnung war. Sie war mit Grischa zusammen. Sie war keine Enttäuschung für ihre Eltern und keine genetische Sackgasse, sie war verdammt nochmal normal. Selbst wenn sie möglicherweise ein bisschen was für Frauen empfand, dann hieß das ja noch lange nicht, dass sie sich nicht bewusst dagegen entscheiden konnte. Sich für Grischa entscheiden konnte – denn das würde sie. Sie hatte sich für morgen mit ihm verabredet – seine Zimmergenossen waren wie fast jedes Wochenende nach Hause gefahren. Sie würden das Zimmer für sich haben und Hope würde ihm und sich selbst gegenüber ein für alle Mal klarstellen, dass sie selbst entscheiden konnte, mit wem sie zusammen sein wollte, vielen Dank.

„Wohin genau bist du eigentlich unterwegs?", fragte Clara. Die Neuntklässlerin, die Hope mittelgut kannte, weil sie die beste Freundin ihrer jüngeren Cousine Louise war, lief neben Hope durch die Korridore. Die beiden hatten sich gerade im Speisesaal getroffen, wo Clara versucht hatte, die Küchenhilfen zu bestechen (Hope wusste nicht, womit oder weshalb, nur dass es nicht geklappt hatte). Aber sie hatte als Trost ein Stück Kuchen bekommen, was beim Frühstück übriggeblieben war.

„Das ist eine gute Frage.", erwiderte Hope. Sie hatte in ihrer Hand ebenfalls zwei Stücke des Desserts, eins für sich und eins für Jela, mit der sie sich gleich treffen wollte. Wobei gleich hier relativ war, da Hope keine Ahnung hatte, wie spät es gerade war. Nach elf auf jeden Fall, denn da war Grischa aufgesprungen, weil er zum Training musste und zu spät war.

Die beiden Mädchen erreichten die Eingangshalle, in der eine große Uhr hing. „Ich bin in einer dreiviertel Stunde verabredet. Also werde ich mir vermutlich bis dahin irgendwo die Zeit totschlagen."

Clara nickte und sah ebenfalls auf die Uhr.

„Ich sollte vermutlich zu meinen Mathehausaufgaben zurückkehren.", seufzte sie und ergänzte in einem jammernden Tonfall: „Ich habe keine Lust..."

Hope schnaubte belustigt.

„Tja, da müssen wir alle durch.", meinte sie. „Was macht ihr gerade?" Was war in der neunten Klasse dran gewesen – Quadratische Funktionen? Oder noch Lineare? Oder schon Exponentielle? Hope erinnerte sich nicht mehr, es war zu lange her. Clara lachte verzweifelt.

„Wenn ich das wüsste!" Sie sah Hope kurz an. „Mit wem triffst du dich?"

„Mit Jela.", erwiderte Hope. „Warum?"

„Das hatte ich gehofft!", verkündete Clara. „Warum wartest du nicht bei uns im Gemeinschaftsraum auf sie, dann können wir uns noch ein bisschen unterhalten und ich kann Mathe weiter vor mir herschieben." Sie sah Hope bettelnd an. „Außerdem musst du dir unbedingt anschauen, was Louise letztens gemalt hat!"

Hope wog unsicher den Kopf hin und her. Sie wusste ja nicht einmal, ob Jela im Zimmer war oder vielleicht in der Bibliothek. Oder draußen. Andererseits hatten sie sich bei Jela verabredet, also würde sie ja auf jeden Fall dorthin zurückkommen.

„Lou würde sich sicher auch freuen!", überredete Clara sie weiter. „Komm schon, wir haben seit Ewigkeiten nichts mehr zusammen gemacht!"

Hope seufzte – überdramatisch tief, um zu zeigen, dass sie es im Grunde für keine gute Idee hielt.

„Na gut.", meinte sie. „Aber ich kann es nicht gutheißen, dass du deine Hausaufgaben aufschiebst!"

Sie erreichten Haus 9, das Hope ja mittlerweile kannte. Trotzdem war es noch immer ein seltsames Gefühl, hier zu sein. Besonders jetzt, ohne Jela. Wie Clara vorhergesagt hatte, freute sich Louise wahnsinnig, sie zu sehen und erklärte sich auch sofort (völlig uneigennützig, natürlich) bereit, ihre Chemiehausaufgaben auf später zu verschieben. Hope unterdrückte ein Lächeln. Sie verbrachte viel zu wenig Zeit mit ihrer jüngeren Cousine, wenn sie in der Schule waren. Dabei mochte sie sowohl Louise als auch Clara eigentlich ziemlich gerne.

Schmetterlinge fürchten sich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt