10 - Wir sind uns alle einig

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10 - Wir sind uns alle einig

Der September wurde Oktober und es wurden Herbstferien. Einerseits fand Hope das gut, da sie Zeit hatte, ihren Lernstoff zu sortieren und dann einfach mal zwei Wochen nichts für die Schule tun musste. Außerdem konnte sie Leo sehen, was sie immer freute (das war vermutlich der größte Nachteil des Internats, dass sie ihren Bruder so selten sah).

Auf der anderen Seite waren es aber auch zwei Wochen, die sie fünfhundert Kilometer von allen anderen verbrachte, da sie zu den wenigen gehörten, die wirklich weit weg vom Internat wohnten. Sophia und Alina hatten beide etwa eine Stunde Fahrt nach Hause und wohnten sogar nur eine gute halbe Stunde voneinander entfernt.

Jela und Grischa wohnten anderthalb Stunden vom Internat weg, allerdings in genau die andere Richtung als Amélie und Hope. Das hieß, dass sie zu allen Leuten, die sie kannte (bis auf Amélie) für zwei Wochen nur übers Internet Kontakt hatte. Und das wäre kein großes Drama gewesen, wenn es in dem Kaff gerade außerhalb von Hamburg, in dem sie wohnten, irgendeine Möglichkeit gegeben hätte, sich zu beschäftigen. Aber die gab es nicht.

Mittwoch der ersten Woche war sie den Tag über mit Amélie und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Louise in die Stadt gefahren. Und jetzt, am Nachmittag, war sie auf dem Rückweg vom Kindergarten, wo sie gerade ihren Bruder eingesammelt hatte. Der berichtete begeistert von der Eisenbahn, die er mit ein paar anderen Kindern zusammen gebaut hatte und ließ sich von Hope das Versprechen abnehmen, dass sie sich die ganze Strecke anschauen würde, wenn sie ihn das nächste Mal abholen würde.

Sie kamen zuhause an und Hope schloss auf. Sofort stürmte Leo hinein, pfefferte seinen Kindergartenrucksack in die nächste Ecke und sprintete ins Wohnzimmer, wo er gleich seine Spielkiste ausräumte.

Hope rief ihn zurück, dass er sich noch seine Schuhe ausziehen sollte, aber sie hatte ein breites Grinsen auf dem Gesicht, während sie ihm seine Jacke abnahm und aufhängte.

Das Haus war still, ihr Vater war noch im Labor und ihre Mutter hatte sie in den vier Tagen, die Hope schon zu Hause war, noch gar nicht gesehen, weil sie auf irgendeiner Geschäftsreise war. Ihr Vater hatte allerdings gesagt, dass sie heute Abend wiederkommen wollte. Hope wusste nicht so recht, ob sie das gut finden sollte oder nicht und sie schämte sich ein bisschen dafür. Schließlich war das doch ihre Mutter, sollte sie sich nicht also freuen, sie zu sehen?

"Ich hab Hunger!", verkündete Leo. Hope lächelte und deutete auf ein paar Kinderhausschuhe in Giraffen-Muster. Dankenswerterweise zog ihr Bruder sie kommentar- und dramalos an und fragte dann: "Kann ich Eis?"

"Wenn du Hunger hast, dann ist noch Auflauf von gestern da.", meinte Hope mit dem ernsthaftesten Gesicht, das sie hinbekam und ging in die Küche. Leo folgte ihr auf dem Fuß.

"Ich habe keinen Hunger auf Gemüse.", erklärte er. "Ich habe Hunger auf Eis."

Kurz überlegte Hope, das Spiel noch ein bisschen länger zu spielen, aber sie hatte das Gefühl, dass Leo das nicht lustig finden würde. Außerdem, wer war sie – Mutter oder Schwester? Sie sah ihren Bruder zwölf Wochen im Jahr; wenn der junge Mann Eis wollte, dann würde er Eis bekommen.

„Ok.", sagte sie also und öffnete den Gefrierschrank. „Schoko oder Vanille?"

Leo schien völlig überfordert damit, dass sein Quengeln tatsächlich erhört wurde. Hope nahm beide Packungen heraus und griff nach zwei kleinen Schüsseln.

„Also ich will beides.", eröffnete sie eine dritte Option. „Du auch?"

Er nickte begeistert und stellte sich auf die Zehenspitzen, um genau sehen zu können, was Hope tat. Die füllte beide Schüsseln und stellte das Eis zurück in den Gefrierschrank. Leo holte zwei Teelöffel und keine fünf Minuten später saßen sie gemeinsam im Wohnzimmer in Leos Spielecke an seinem Kindertisch.

Schmetterlinge fürchten sich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt