4 - Der größte Pechvogel, den die Welt je gesehen hat

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4 - Der größte Pechvogel, den die Welt je gesehen hat

In der darauffolgenden Woche konnte Hope feststellen, wie seltsam Grischa wirklich war. Zum einen fiel er ihr jetzt viel mehr auf –wirklich, es war beinahe lächerlich, wie oft sie ihn am Tag sah: beim Frühstück, zwischen den Unterrichtsstunden auf dem Korridor, in der Frühstückspause nach der dritten Stunde, auf dem Weg zum Mittagessen, nach der Schule zwischen den Häusern und auf dem Weg zum Schwimmbad, was sie alle paar Tage, mindestens aber einmal in der Woche abends besuchte.

Und wie schon bei Jela fragte sie sich zunehmend, wie es sein konnte, dass er ihr nicht viel früher aufgefallen war. Er hatte offenbar beschlossen, dass sie jetzt, da sie einmal miteinander geredet hatten(oder viel mehr in der Gegenwart des anderen geredet hatten), Freunde waren. Jedes Mal, wenn er Hope auf dem Gang sah, winkte er enthusiastisch (als ob sie ihn nicht gesehen hätte, wenn er einfach normal gewunken hätte – er war ja nur locker einen halben Kopf größer als die meisten anderen Schüler) und grinste sie breit an. In neun von zehn Fällen folgte darauf ein Zusammenstoß mit einem anderen Schüler, einer Wand, einem Treppengeländer oder, in einem Fall, bei dem es Hope wirklich schwer gefallen war, sich das Lachen zu verkneifen, einer Glastür.

Aber es bereitete Hope ein warmes Gefühl in der Brust, dass er sich, auch wenn sie sich zum fünften und sechsten und siebten Mal am Tag sahen, kein Stück weniger offensichtlich freute, sie zu sehen und sie erwischte sich dabei, dass sie nach ihm Ausschau hielt und ihm in den Pausen mit den Augen über den Hof folgte.

Nach fünf solchen Tagen konnte sie über Grischa folgendes sagen, ohne je ein Gespräch mit ihm geführt zu haben: Er war im Gegensatz zu seiner Schwester mit einem Aussehen gesegnet, welches so gut war, dass es darüber hinweg täuschen konnte, dass er ganz offensichtlich nicht der intelligenteste Junge seiner Altersklasse war. Er spielte mit viel Leidenschaft aber wenig Talent Fußball und hätte er den Mund gehalten, anstatt zu versuchen, die Mädchen mit schlechten Sprüchen zu einem Date zu überreden, so hätte er sogar mit ziemlicher Sicherheit eines bekommen. Das einzige, worin er wirklich talentiert zu sein schien, war es, den ersten Eindruck von sich gründlich zu vermiesen.

Er war kein schlechter Mensch, im Gegenteil, er wirkte sehr extrovertiert und hatte immer eine Traube von Leuten um sich, riss Witze, von denen einige sogar tatsächlich lustig zu sein schienen, hatte stets gute Laune, gab allen möglichen Leuten auf dem Gang ein High Five (Hope hatte kein Muster erkennen können, es wirkte als gäbe er einfach allen eins, die aussahen, als könnten sie eins brauchen) und half drei verschiedenen Lehrern, ihre Ausrüstung zutragen (drei weitere lehnten das Angebot dankend ab und nachdem Hope gesehen hatte, wie er samt den historischen Atlanten die Treppe hinuntergefallen war, verstand sie auch, warum). Mit einem mitleidigen Lächeln schloss Hope bereits am Mittwoch, dass Grischa vermutlich der größte Pechvogel war, den die Welt je gesehen hatte.

Es dauerte jedoch bis Freitag, sechs Tage, nachdem Grischa und Hope einander vorgestellt worden waren, bis die beiden tatsächlich ein Gespräch miteinander führten:

„Wohin des Wegs?", riss eine fröhliche Stimme Hope aus ihren Gedanken. Sie sah von ihrem Schatten auf und Grischa an, ohne ihren Spaziergang über das Schulgelände zu unterbrechen.

„Zur Schwimmhalle.", erklärte sie und hob ihren linken Arm, an dem ihre Schwimmtasche baumelte. „Und du?"

Grischa zuckte mit den Schultern und vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen.

„Ich habe dich gesehen und dachte, ich schau mal, ob du vielleicht Gesellschaft willst.", erzählte er leichthin. „Schwimmst du oft?"

Hope nickte.

„Schon ziemlich.", sagte sie. „Ich versuche, es einmal die Woche zu schaffen, öfter, wenn ich Glück habe." Sie erreichten das Ende der kleinen Ansammlung von Schülerwohnhäusern (es waren zehn für jeweils 40 Schüler, davon die eine Hälfte Jungen- und die andere Mädchenhäuser) und bogen ab in Richtung des Gebäudes, welches die Turn- und Schwimmhalle beinhaltete.

Schmetterlinge fürchten sich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt