Kapitel 26
Als ich abends von Nathalie nach Hause komme, schenke ich Onkel George eine halbherzige Begrüßung und will mich schon in meinem Zimmer verkriechen, aber er hält mich zurück.
„Chloe, warte noch kurz“, meint er mit einer Stimme, die ich nicht ganz definieren kann – steckt da ein Fünkchen Unsicherheit in seinen Worten?
Ich drehe mich bloß um und starre ihn abwartend an. Ahnt er eigentlich, dass ich etwas von Dads Alkoholproblemen weiß? Dass ich die Wahrheit kenne? Und von wem ich das alles erfahren habe? Ich fühle mich irgendwie ertappt. Erwischt. Bei etwas Verbotenem. Etwas, was ich nicht getan haben sollte.
„Ich wollte dir nur sagen, dass ihr am Freitag einen kleinen Ausflug machen werdet. Deshalb bitte ich dich ein paar Sachen zu packen. Am besten so für vier Tage, denn erst am Dienstag fahrt ihr zurück.“
Ein wenig verwirrt blinzele ich und mein besorgtes Unterbewusstsein drängt sich in die erste Reihe meiner Gedanken.
Er weiß etwas. Du weißt etwas. Aber er weiß mehr als du. Da ist noch viel mehr. Und jetzt will er dich aus dem Haus haben, um es vor dir zu verbergen.
„Wer sind 'wir'? Du bist nicht dabei?“, frage ich ruhig und lasse mir meine Paranoia nicht anmerken.
„Nein. Nur Audrey und du.“
„Und wohin geht die Reise? Was haben wir vor? Wieso sollen wir uns das jetzt mitten im Weihnachtsstress antun?“
„Ihr werdet eine schöne Zeit haben, da bin ich mir sicher! Aber wohin ihr fahrt, will ich dir noch nicht verraten – es soll eine Überraschung werden.“ Ein albernes Lächeln schummelt sich in sein Gesicht.
Es wirkt ein bisschen provozierend. Und falls das seine Absicht war, dann hat er es geschafft, denn irgendwie bin ich stinksauer. Ich hasse es, wenn er mir etwas vorschreibt oder glaubt, immer zu wissen, was das beste für mich ist.
„Nicht einmal ein kleiner Tipp?“, hake ich nach und setze ein breites, viel zu fröhliches Grinsen auf.
„Hmm...“
„Ach komm schon. Bitte.“
„Okay. Ein kleiner Tipp: Ihr werdet eine alte Freundin von Audrey besuchen“, gibt er schließlich zu.
Aha. Okay. Wow. Das wird vielleicht spaßig – ich sehe mich schon zwischen Audrey und dieser Freundin sitzen und Trübsal blasen, während die beiden in Erinnerungen schwelgend in Fotoalben blättern.
„Ja... Das wird bestimmt toll“, murmele ich jetzt desinteressiert, aber ich grinse immer noch.
„Wusste ich doch das es dir gefällt!“
Onkel George überhört meine fehlende Begeisterung absichtlich und führt dieses seltsame Spiel auch noch fort, was mich innerlich brodeln lässt. Aber ich will nicht, dass er bemerkt, wie wütend mich das ganze macht. Wie wütend er mich macht. Deshalb versuche ich einfach, das brave kleine Engelchen zu spielen und ihn auch ein bisschen zu ärgern.
„Wo ist denn Audrey eigentlich? Ich will gleich mit ihr darüber reden! Außerdem hat sie sowieso gemeint, ich soll ihr wieder erzählen, wie es bei Nathalie war“, sage ich nun und klinge viel enthusiastischer.
„Oh, es freut mich, dass ihr zwei so gute Freundinnen seid. Sie ist oben im Schalfzimmer und liest, denke ich.“ Jetzt wirkt auch sein Lachen sehr erzwungen und ich erwidere es mit der gleichen unglaubwürdigen Mimik.
„Gut, dann schau ich gleich mal zu ihr.“
Das war irgendwie seltsam. Es hat sich nicht so angefühlt, als wären das gerade eben George und Chloe, die sich miteinander unterhalten haben, sondern seltsame, unmenschliche Kopien. Ich frage mich, ob ich mich ihm gegenüber vielleicht doch unfair verhalte. Sollte ich ihm einfach sagen, was los ist oder weiterhin warten, bis er selbst draufkommt? Wird er denn überhaupt jemals dahinterkommen? Soll ich einfach versuchen, ihm zu vergeben? Schaffe ich das auch? Ist es besser, wenn ich alles vergesse und verdränge? Die Wahrheit ausblende? Oder mich damit abfinde und nie wieder daran denke?
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Sternträumerin
Mystery / Thriller"Hoffnung ist nichts weiter als der jämmerliche, verzweifelte Wunsch, dass sich die Dinge doch noch zum Guten wenden. Manchmal ist es die Hoffnung, die dafür sorgt, dass wir am Leben bleiben und nicht ganz den Verstand verlieren. Aber viel zu oft wi...