Kapitel 35
Als ich zwei Tage danach - am 27. Dezember - ein letztes Mal Doktor Harpers Worten lauschen muss, bevor ich endlich wieder nach Hause kann, überkommt mich eine so kräftige Portion an Vorfreude, dass ich sie kaum in mir behalten kann.
„Gut. Deine Blutwerte haben sich komplett normalisiert - also besteht jetzt eigentlich kein Grund mehr, dich hier zu behalten. Ich werde der Schwester bescheid geben, dass sie deine Eltern benachrichtigen soll", verkündet er mit einem halbherzigen Lächeln.
„George und Audrey Jered sind nicht meine Eltern", sage ich automatisch und klinge dabei ähnlich wie ein emotionsloser Roboter.
Etwas verwirrt hält mein Arzt inne. „Äh, ja, tut mir leid, sie werden dich auf jeden Fall heute abholen. Ich sage es der Schwester und du ruhst dich noch etwas aus, ja?" Ohne meine Antwort abzuwarten, verschwindet er unbekümmert nach draußen.
Kaum ist die Tür wieder ins Schloss gefallen, höre ich ein lautes Seufzen aus dem Bett neben mir. „Wie soll ich es nur allein mit Doktor 'Jeder, der jünger ist als ich, ist automatisch ein Baby' aushalten? Oder wie ich ihn gern nenne 'Doktor Baby'. Und das mindestens eine ganze Woche? Lass mich nicht allein, Chloe", jammert Lu gespielt.
Noch am Tag, als ich aufgewacht bin, hat man auch sie ins Krankenhaus eingeliefert und in das selbe Zimmer wie mich gebracht. Anscheinend stimmt irgendwas mit der Niere nicht, die man ihr vor fast einem Jahr transplantiert hat - ihre Situation ist also um einiges komplizierter als meine. Das erste richtige Gespräch, das wir gehabt haben, hat von unserem gemeinsamen Arzt, Doktor Harper gehandelt, den sie genau so wenig mag wie ich. Es ist mittlerweile sowas wie unser Running Gag geworden, sich über ihn zu beschweren - oft auch viel übertriebener als nötig. Seit dem haben wir irgendwie immer etwas zu reden gehabt - seltsamer Weise fällt es mir leicht, mich mit ihr zu unterhalten. Sie ist eine dieser Personen, die wahrscheinlich sogar mit einem Stein ein interessantes Gespräch aufbauen könnte. Und obwohl sie schon fast achtzehn Jahre alt ist, verhält sie sich meistens doch um einiges jünger, um mich zum Lachen zu bringen. Auf eine gewisse Art erinnert sich mich an Sophie, meine beste Freundin.
„Du schaffst das schon", murmele ich leicht lächelnd.
„Ja ja... Meine ganzen Weihnachtsferien in dieser weißen Gefängniszelle zu verbringen war aber nicht mein Plan."
„I-ich weiß. Aber beschwer dich nicht bei mir... sondern bei deiner Niere."
Lu sitzt aufrecht auf ihrem Bett und durchlöchert ihren eigenen Bauch mit bösen Blicken, was von meiner Perspektive so komisch aussieht, dass ich schon wieder leise lachen muss.
„Ich glaub, meine Niere ignoriert mich... Aber jetzt was anderes. Wenn sie dich heute abholen, kommt Kyle dann auch mit?" Sie grinst mich vielsagend an. „Du wirst ja schon wieder rot! Wie machst du das?", lacht sie.
„I-i-ich mach gar nichts! Und keine Ahnung, ob er auch herkommt - darüber haben wir eigentlich noch kein Wort verloren...", zum Ende hin wird meine Stimme immer leiser und meine Wangen färben sich immer dunkler.
Da ich mein Handy hier benutzen darf, hat mich Kyle innerhalb der letzten zwei Tage bestimmt zehn mal angerufen und jedes mal fast dreißig Minuten mit mir telefoniert. Natürlich hat Lu das mitbekommen, aber sie ist überhaupt nicht - wie ich eigentlich erwartet habe - genervt davon gewesen oder hat es als rücksichtslos empfunden, sondern eher im Gegenteil. Sie hat mich sofort über ihn ausgefragt und unsere Beziehung gefühlte tausendmal als „süß" bezeichnet.
„Du musst wissen, dass ich sehr gern Leute shippe. Egal, ob Buchcharaktere, Schauspieler, Sänger oder Leute, die ich wirklich kenne. Ich find es einfach so schön, wenn man sieht, dass zwei Menschen zusammengehören", hat Lu mir danach erklärt. Dann sind ihre Augen größer und ihr Lächeln breiter geworden, als sie stolz verkündet hat: „Ihr beiden seid Kyloe. Und ich shippe euch!"
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Sternträumerin
Mystery / Thriller"Hoffnung ist nichts weiter als der jämmerliche, verzweifelte Wunsch, dass sich die Dinge doch noch zum Guten wenden. Manchmal ist es die Hoffnung, die dafür sorgt, dass wir am Leben bleiben und nicht ganz den Verstand verlieren. Aber viel zu oft wi...