Kapitel 31
Es ist Sonntag Abend und eigentlich habe ich überhaupt keine Lust dazu, aber ich schlüpfe in das blaue Kleid, das ich mir am Vortag gekauft habe. Danach verwandelt Sophie meine normalerweise schnurgeraden Haare in eine dunkle Lockenpracht und ich lasse sogar eine Make-up-Verschönerung über mich ergehen. Das alles nur Sophie zuliebe.
Ich hab ihr versprochen, dass wir uns noch ein paar schöne Tage machen und den Ordner — beziehungsweise seinen mysteriösen Inhalt und alle Sorgen, die dazugehören — fürs Erste vergessen, da wir derweil sowieso nichts weiter unternehmen können. Meine einzige Möglichkeit, um mehr herauszufinden, ist, dass ich Onkel George direkt darauf anspreche. Und genau das werde ich zumindest versuchen, sobald ich wieder in Wennington bin.
„Die Eltern von Sam sind nicht da und er schmeißt heute eine Party, zu der er uns eingeladen hat. Und nett wie wir sind, können wir dieses Angebot doch nicht einfach so abschlagen", hat Sophie mir also vor ein paar Stunden erklärt.
Im Gegensatz zu ihr gehe ich nicht gerne auf Partys. Ich hasse es zu tanzen, meistens wird mir nach den ersten paar Schlücken Alkohol schlecht, alle Betrunkenen wissen sowieso nicht mehr, wer ich eigentlich bin und meine Schüchternheit macht es mir auch nicht gerade einfach, mit Fremden zu reden. Aber hey, ich werde mit Sophie dort sein und auch ein paar Leute aus meiner Klasse mal wieder sehen. Die nächsten Stunden werde ich schon überleben, selbst wenn sie einem Spaziergang durch die Hölle gleichen — okay, das war wahrscheinlich übertrieben, aber was soll's.
Als meine beste Freundin damit fertig ist, meine Haut zu bepinseln, betrachte ich mich verwundert im Spiegel. Ich sehe aus wie ein anderer Mensch. Eine großzügige Schicht Mascara sorgt dafür, dass meine Wimpern um einiges länger, dunkler und dichter aussehen und Schatten auf meine Wangen werfen. Bläulicher Lidschatten, der perfekt mit meinem Kleid harmoniert, umgibt meine Augen. Alle Hautunreinheiten sind mit Puder in einem blassen Hautton abgedeckt und leicht rosarotes Rouge lässt meine Wangen wirken wie die einer Porzellanpuppe. Zusätzlich winden sich meine schwarzen Haare in ungewohnte Locken gekringelt von meinem Kopf hinab. Auch das blaue Kleid, das sich an meine Haut schmiegt, sieht nicht nach mir aus. Außerdem gehe ich davon aus, dass mir darin um die Jahreszeit ziemlich kalt wird, aber Sophie behauptet das Gegenteil. Wenn es nach mir ginge, würde ich auf der Party in Pullover und Jeans auftauchen, aber sie macht mir jeden erdenklichen Strich durch diese Rechnung.
„Meinst du nicht, dass ist ein wenig... zu viel? Ein wenig sehr zu viel?", frage ich unsicher. Sie hat sich so viel Mühe gemacht, da will ich nicht gleich gestehen, dass ich mich fühle wie ein Elefant im Körper einer Spinne.
„Ach, Blödsinn. Du siehst toll aus! Aber wenn du willst, können wir den Lidschatten und das Rouge weg lassen... Ich hab von Anfang an gewusst, dass das nicht so dein Stil ist", meint sie gelassen.
Ich starre sie verwirrt an. „Und wieso verwandelst du mich dann in..." Ich deute auf mein Gesicht und eigentlich meinen ganzen Körper. „...in das hier?"
Sie lacht, während sie ein duftendes Abschminktuch zur Hand nimmt. „Wann hast du jemals zugelassen, dass ich dich schminke? Solche Gelegenheiten muss man ausnutzen, Kleines!"
Ich verdrehe die Augen, bevor ich sie schließe, sodass meine amüsierte Freundin das überschüssige Kosmetikzeug von mir entfernen kann.
—
Die laute Musik kommt uns schon entgegen, als wir noch auf der Straße vor Sams Haus stehen und ich frage mich, wieso die Nachbarn noch nicht die Polizei gerufen haben. Wir sind am äußersten Rand der Stadt, vermutlich ist es deshalb nicht so streng geregelt oder so. Ich werde immer unsicherer, ob ich wirklich Teil dieser Party werden will. Und wollen die Leute da drinnen denn überhaupt, dass ich mich ihnen anschließe? Vermutlich kennen mich die meisten von ihnen nicht und es ist ihnen gleich.
DU LIEST GERADE
Sternträumerin
Misteri / Thriller"Hoffnung ist nichts weiter als der jämmerliche, verzweifelte Wunsch, dass sich die Dinge doch noch zum Guten wenden. Manchmal ist es die Hoffnung, die dafür sorgt, dass wir am Leben bleiben und nicht ganz den Verstand verlieren. Aber viel zu oft wi...