Kapitel 16
„Ihr-ihr beiden scheint sowieso ganz gut zurecht zu kommen. I-ich sollte noch dein Zimmer ein wenig in Ordnung bringen, Nathalie. Dort sieht es bestimmt aus... als hätte e-ein Tornado gewütet. Kann ich dich kurz mit ihr allein lassen, Kyle?“, frage ich und wende mich bereits der Treppe zu.
„Klar. Ich pass´ schon auf sie auf!“, versichert er mir.
Während ich nach oben gehe – oder mehr oder weniger hüpfe, da die Stufen aus irgendeinem mir unbekannten Grund höher angelegt sind, als ich es gewohnt bin – höre ich noch Nathalie, die unbedingt weiter 'Flieger' spielen will. Mit einem Lächeln auf den Lippen gehe ich in ihr Zimmer und mich trifft fast der Schlag, als ich sehe, wie viel Chaos wir tatsächlich angerichtet haben. Überall liegen ihre Barbie-Puppen herum – was mindestens 20 Stück sind – und das zuvor wunderschön professionell gebaute Legohaus ist in alle Einzelteilen zerlegt und bedeckt den Boden wie eine dünne Schneeschicht. Eine bunte, dünne Schneeschicht. Außerdem befindet sich auch ein unfertiges Puzzle am Teppich, das ehrlich gesagt selbst für mich zu kompliziert war, da es lauter gleich-blau-aussehenden Stückchen gibt. Vorhin ist mir diese Unordnung gar nicht so schlimm vorgekommen, aber jetzt... Ein leiser Seufzer entwischt mir, bevor ich anfange, das Puzzle zurück in die Schachtel zu stopfen.
Fast eine halbe Stunde später habe ich den Großteil wieder so hinbekommen, wie er am Anfang ausgesehen hat, obwohl mir das Legohaus ziemlich schlecht gelungen ist. Trotzdem gehe ich erleichtert den kurzen Flur Richtung Wendeltreppe zurück, halte dann aber kurz inne, weil ich gespannt Nathalies Worten von unten lausche.
„Erzähl mir eine Geschichte!“, fordert sie. „Bitte.“
Die beiden sitzen neben einander auf den Treppen. Nathalie ist so klein, dass sie sich auf die drittletzte der Stufen setzen kann und ihre Füße den Boden gerade so berühren. Kyle hingegen sitzt viel weiter oben, aber aus meiner Sicht kann ich es nicht abzählen.
„Ähm... Puh. Okay. Was willst du hören? Kennst du Rapunzel? Cinderella? Schneewittchen?“, fragt Kyle, der wohl nicht damit gerechnet hat, heute Mr. Geschichten-Erzähler zu spielen.
„Kenn ich alles schon! Die sind langweilig! Ich will kein Märchen hören, dass es schon gibt. Denk dir irgendwas aus“, meint Nathalie, als wäre es das leichteste und alltäglichste auf der ganzen Welt.
„Ich weiß nicht... Was für eine Art von Geschichte soll das sein?“ Er fährt sich nachdenklich mit der Hand durch die unordentlichen Haare.
„Eine Liebesgeschichte!“, ruft sie begeistert.
„Also schön...“ Er seufzt kurz, aber versucht es noch irgendwie als ein Räuspern zu tarnen, sodass das ziemlich merkwürdig klingt. „Du kennst bestimmt noch nicht die Geschichte der Sternträumerin, hab ich recht?“
Nathalie schüttelt den Kopf.
„Es war einmal ein Mädchen mit Haaren so schwarz wie die Nacht und Augen... die so blau waren wie der tiefste, geheimnisvollste Ozean. Sie war kein normales Mädchen, denn eigentlich war sie eine Prinzessin. Also war ihr Vater der König und Herrscher über ein riesiges Reich. So verdammt riesig, dass du es dir nicht einmal vorstellen kannst! Doch er war noch lange nicht zufrieden, also ihr Vater. Er war so machtsüchtig und gierte nach immer mehr Einfluss auf die Welt, aus genau diesem Grund schloss er einen Pakt mit einem anderen König. Er würde seine bildhübsche Tochter mit dem Sohn des anderen Königs verheiraten, um die beiden Königreiche zu vereinen.“
„Nein! Was wenn sie das gar nicht will?“, protestiert Nathalie schockiert.
„Pscht. Dazu komme ich gleich. Also, ähm... Als der König der Prinzessin erzählte, was er vorhatte, war sie kein bisschen begeistert. Wie du schon gesagt hast, sie wollte nicht irgendeinen Jungen heiraten, den sie nicht kannte. Aus lauter Verzweiflung fing sie an zu weinen, aber ihr Vater wurde davon wütend, deshalb sperrte er sie in ihr Zimmer ein, da sie sich wieder beruhigen sollte. Und er genervt war von ihrem... Weinen. Das Mädchen wohnte im obersten Stock des ganzen Schlosses, aber es hatte einen Balkon, auf den es wenigstens hinausgehen konnte. Von dort aus beobachtete sie schon seit sie ein kleines Mädchen war fast jede Nacht die Sterne. Sie war fasziniert von ihrem hellen Funkeln und der Vielfalt der Sternbilder. Normalerweise bewunderte sie den Nachthimmel voller Freude und Glückseligkeit, aber in dieser Nacht war sie so verzweifelt, dass sie sich kaum auf den Himmel konzentrieren konnte. Doch da war plötzlich... ähm. Eine Sternschnuppe, die ihr Interesse weckte. Sie wünschte sich einen Weg hinunter von diesem Balkon, sodass sie immer entkommen konnte, ohne dass ihr Vater es bemerken würde. Sie schloss die Augen und dachte ganz fest daran. Und als sie sie wieder öffnete, konnte sie ihren Augen nicht trauen. Lauter Pflanzen – wie Efeu und anderes Pflanzenzeug, das Wände hoch wachsen kann, was weiß ich was es da noch so gibt und wie das alles heißt. Also lauter solche Pflanzen hatten sich zusammen geschlossen, um eine Leiter für sie zu bilden.“
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Sternträumerin
Misteri / Thriller"Hoffnung ist nichts weiter als der jämmerliche, verzweifelte Wunsch, dass sich die Dinge doch noch zum Guten wenden. Manchmal ist es die Hoffnung, die dafür sorgt, dass wir am Leben bleiben und nicht ganz den Verstand verlieren. Aber viel zu oft wi...