Kapitel 18
„Woher kennst du diese Namen?“, frage ich Kyle, der mich neugierig mustert, wobei ich beinahe schreie.
Dann setze ich mein bestes Poker-Face auf und versuche meine Gedanken zu sammeln, um mich zu konzentrieren und nicht wieder überrumpelt zu werden.
„Während du dort im Gras gesessen bist, hast du ständig die Worte 'Paula, Miranda und Dad' gestottert. Keine Ahnung, was das sollte, mehr hast du nicht erwähnt. Tut mir ja leid, wenn die Frage unangebracht war, aber es interessiert mich wahnsinnig.“
„Kyle, ich-“ Erneut fällt er mir ins Wort.
„Nein, nein, schon gut. Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht möchtest“, sagt er und ein leiser Seufzer entwischt ihm.
Ist es ungerecht, ihm dieses eine wichtige „Detail“ über mich nicht zu erzählen? Die Ereignisse, die mein Leben geprägt haben und mich wohl noch auf ewig heimsuchen werden? Kennt er mich denn überhaupt? Viel erzählt habe ich ihm bestimmt nicht. Ich bin eine dieser nervigen Personen, denen man fast jede noch so unbedeutende Kleinigkeit aus der Nase ziehen muss. Aber das hat einen ganz einfachen Grund: Es liegt nicht daran, dass ich „geheimnisvoll“ sein will. Ich würde mich auch nicht unbedingt als besonders „asozial“ bezeichnen – zumindest meistens. Die Wahrheit ist, dass egal was ich erzählen könnte, ich immer davon ausgehe, dass es mein Gegenüber sowieso nicht hören will und es ihn mehr langweilt als ein Vortrag über verschiedene Textilien – fragt nicht nach, wieso ich gerade auf diesen Vergleich komme, ich weiß es nicht.
Ich bemühe mich, meinen Herzschlag unter Kontrolle zu halten und die ganzen traurigen, verzweifelten Gedanken vollkommen auszublenden. Eine gute Übung für mich, bestimmte Situationen handzuhaben wie Onkel George: einfach so tun, als würde ich gar nicht damit in Verbindung stehen.
„Wenn du es wirklich wissen willst, dann erzähle ich dir... meine Geschichte.“ Wir beide scheinen erstaunt über die Sicherheit meiner Stimme zu sein, aber niemand spricht es an. Kyle sagt überhaupt nichts. Er sieht mich nur auffordernd an, was wohl ein eindeutiges Zeichen ist, dass ich weiter reden soll. „Also gut.“ Ein letzter tiefer Atemzug für meine schwachen Nerven. „Paula war meine Mutter. Ja, ich habe absichtlich war gesagt. Sie ist tot – gestorben als ich fünf Jahre alt war. Leukämie. Bitte sieh mich nicht mit diesem Blick an.“
Das für mich unausstehliche Mitleid spiegelt sich deutlich in seinen Augen wieder und er scheint erstaunt, aber nicht unbedingt geschockt zu sein. Vielleicht hatte er schon so eine böse Vorahnung – oder Audrey hat es ihm erzählt.
„Tut mir leid“, sagt er, aber es ist nicht deutlich klar, ob er von meinem Verlust oder seinem Gesichtsausdruck spricht.
Über meine Mutter zu reden, war vermutlich noch das einfachste, denn an sie kann ich mich am wenigsten erinnern. Trotzdem wird mein Hals bereits kratzig und kommt mir so vor wie ein Reibeisen. Wie auch immer, ich sollte auf jeden Fall demnächst weiter reden, bevor die Traurigkeit wieder Besitz über mich ergreift und ich unfähig bin zu reden, zu denken oder zu lachen.
„Vielleicht hast etwas davon gehört, dass mein Onkel, George, vor Audrey noch eine zweite Frau hatte. Ihr Name war Miranda. Sie war für mich mehr eine Mutter, als es meine eigene jemals gewesen war. Kein schlechtes Wort gegen Paula oder so, aber ich erinnere mich kaum noch an sie. Bei Miranda war es ein Autounfall.“ Bevor er oder ich noch irgendwas einwerfen können, rede ich weiter. Ohne Punkt und Komma, um schnellstmöglich den letzten Schicksalsschlag loszuwerden. „Anfang dieses Monats wurde mein Vater ermordet“, sage ich knapp.
Jetzt starrt mich Kyle ungläubig an, als wäre das alles nur ein extrem schlechter und kranker Witz. Ich wünschte, es wäre so. Mit meiner kurzen Lebensgeschichte, habe ich es geschafft ihn sprachlos zu machen und ich komme mir dumm vor. Wieso erzähle ich es ihm überhaupt? Solche Geschichten will niemand hören! Ich stelle mir vor, wie Nathalie diese Erzählung von mir gefallen würde – vermutlich nicht im geringsten. In meinen Gedanken höre ich bereits ihre Protestrufe bei jedem einzelnen Wort und eine Beschwerde über das fehlende Happy End. Kann ich mich auch irgendwo beschweren, dass meine Lebensgeschichte nicht dem entspricht, was ich gerne hören und weitererzählen würde?
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Sternträumerin
Mistério / Suspense"Hoffnung ist nichts weiter als der jämmerliche, verzweifelte Wunsch, dass sich die Dinge doch noch zum Guten wenden. Manchmal ist es die Hoffnung, die dafür sorgt, dass wir am Leben bleiben und nicht ganz den Verstand verlieren. Aber viel zu oft wi...