Kapitel 13
Wenige Zeit später finde ich plötzlich mich mit Audrey, George und Kyle im Esszimmer wieder. Ich kann gar nicht richtig erklären, wie es dazu gekommen ist, dass dieser fremde Junge in meinem Haus sitzt und mit uns zu Abend isst. Immer wieder fällt mir auf, wie misstrauisch George Kyle mustert und ich würde am liebsten im Boden versinken, vor lauter Schamgefühlen. Komm schon Boden, Sesam öffne dich – und verschlinge mich.
„Ähm, geht ihr in die selbe Klasse?“, fragt Audrey nach ein paar Minuten, in denen ein peinliches, bekanntes Schweigen herrscht.
„Nein“, antworte ich, bevor Kyle irgendetwas sagen kann. „Nur in die selbe Schule.“
„Ja. Ich bin einen Jahrgang über ihr, also bin ich 17“, fügt er noch hinzu.
„Okay.“ Offensichtlich will meine – zum Erbrechen süße – Tante unbedingt ein Gespräch aufbauen, denn sie versucht es weiter. „Was machen deine Eltern vom Beruf her, Kyle? Vielleicht kenne ich sie ja.“
Er räuspert sich kurz und setzt dann ein höfliches Lächeln auf, wie es sich für den perfekten Freund der Tochter gehört. Nur dass er nicht mein Freund ist. Und ich nicht die Tochter von George und Audrey bin.
„Mein Vater ist Anwalt und meine Mutter Lehrerin an der Grundschule“, sagt er schließlich in nettem Tonfall.
„Lehrerin? Hey, so ein Zufall! Ich wusste, deine Augen kommen mir bekannt vor. Sie muss meine Kollegin sein. Florence, nicht?“ Sie strahlt übers ganze Gesicht und auch Kyles Miene hellt sich noch etwas auf.
Sofort sind die beiden in eine Konversation verwickelt und ich sitze daneben und werde erneut wie Luft behandelt. Meine lieben Freunde, die Staubparteikelchen, leisten mir Gesellschaft. Oh, Onkel George natürlich auch. Allerdings wirft mir dieser zwischendurch bloß fragende Blicke zu, ohne seine Lippen zu bewegen.
Während ich schweigend vor mich hin vegetiere und die Stimmen neben mir ignoriere, zähle ich die blauen Punkte auf der weißen Serviette vor mir.
„Chloe? Hallo? Ich hab dich was gefragt“, sagte Audrey lächelnd, aber ich erkenne in ihren Augen, dass sie sich etwas für mich schämt.
Ich dachte ich hätte Besuch? Zusätzlich dazu habe ich den Faden verloren und jetzt habe ich keine Ahnung mehr, bei dem wievielten Pünktchen der Serviette ich gerade war. Danke.
„T-tut mir leid. Ich... ich wa-war gerade nur mit meinen Gedanken woanders.“ Der Versuch, meine Stimme vom Stottern abzuhalten, misslingt leider viel zu oft. Bei Leuten, die ich lange und gut kenne, mache ich das eigentlich überhaupt nicht, aber kaum ist jemand anderes anwesend, werde ich zu einem nervösen Problemfall.
„Das haben wir wohl alle gemerkt. Ich wollte auch nur vorschlagen, dass du Kyle den Balkon zeigst. Die Aussicht ist fantastisch.“
Versucht sie gerade, mir etwas Zeit allein mit ihm zu verschaffen – weg von Onkel Georges strengem Blick? Will sie mich verkuppeln? Denkt sie, da läuft etwas zwischen ihm und mir? Ob ich wohl schon aussehe, wie eine knallrote Tomate? Hoffentlich ist es nicht zu extrem.
„Okay“, sage ich mit heiserer Stimme, was wohl eher nach einem Husten klingt.
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Als wir in meinem Zimmer sind – nur noch zu zweit – setze ich mich erstmal auf mein Bett und schließe kurz die Augen. Kann es noch peinlicher werden? So wie ich mich selbst kenne, werde ich es wahrscheinlich noch um einiges steigern.
Kyle räuspert sich kurz und ich reiße abrupt meine Augen auf. Er steht noch in der Tür, etwas verwirrt und unschlüssig, was er in diesem kleinen Raum tun soll.
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Sternträumerin
Mystery / Thriller"Hoffnung ist nichts weiter als der jämmerliche, verzweifelte Wunsch, dass sich die Dinge doch noch zum Guten wenden. Manchmal ist es die Hoffnung, die dafür sorgt, dass wir am Leben bleiben und nicht ganz den Verstand verlieren. Aber viel zu oft wi...