Kapitel 32
„Lass mich raten... I-ich hab dich heute in der Nacht angerufen und dir irgendwas von... äh, von Küken und Hühnern erzählt?", meine ich zu Kyle, der am andern Ende der Handyleitung ist.
„Volltreffer, Schneewittchen." Er grinst. Ich weiß es, ohne ihn sehen zu müssen.
Am liebsten würde ich sofort auflegen, mein Handy aus dem Fenster werfen, in den kleinen Garten rennen, wo es landen sollte, dann darauf herumspringen wie auf einem Trampolin und es letztendlich in der Erde vergraben, um dieser peinlichen Situation ein Ende zu machen. Sophie stößt mich mit dem Ellbogen in die Seite und holt mich von meinem Tagtraum zurück in die Realität. Sie sieht mich erwartungsvoll an und ich spüre bereits wie sich auf meinen blassen Wangen rosarote Farbkleckse abzeichnen.
„T-tut mir leid... Das war so dumm von mir, ich-ich hab's wohl gestern ziemlich übertrieben." Meine Stimme wird immer leiser, aber ich kann nichts dagegen tun. Der Wunsch, dass er meine Worte - die vermutlich alles nur noch schlimmer machen - nicht versteht, ist zu groß.
Er lacht kurz auf, bevor er erwidert: „Ach, halb so wild. Ich schätze, wir sind damit quitt."
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich begreife, dass er die Nachricht meint, die er mir vor ein paar Tagen in ebenfalls betrunkenem Zustand auf meinen Anrufbeantworter gesprochen hat. Aber dann fühle ich mich gleich besser. Irgendwie schafft Kyle es, dass mir das ganze weniger peinlich, sondern sogar fast normal vorkommt.
Deshalb wage ich die Frage: „Okay. U-und hab ich sonst noch irgendwelchen Unsinn geredet? Irgendwas, das ich wissen sollte?"
„Keine Ahnung, ob es wichtig ist. Aber du hast wie gesagt über Küken geredet und gemeint, dass du dir eines zum Geburtstag wünscht. Aber kein so normales, langweilig gelbes, sondern ein Küken so weiß wie Schnee. Danach hast du noch lauter Namen für dein zukünftiges Kuschelküken aufgezählt. Ja, du hast Kuschelküken gesagt. Und bevor du aufgelegt hast, hast du mir noch nebenbei erzählt, dass du mich liebst."
Ich erstarre. Luft. Luft. Luft. Wo ist die verdammte Luft, wenn man sie mal sucht und nicht zu fassen kriegt? Neben mir unterdrückt Sophie ein Lachen, aber es gelingt ihr kaum, sodass seltsame Geräusche entstehen.
„Schneewittchen?", fragt Kyle verwundert nach, so als wäre nichts gewesen.
„Ich hab dir WAS erzählt?!", rufe ich, als ich wieder bei Bewusstsein bin. Mehr oder weniger.
„Dass du mich liebst." Die Art wie er das sagt - so beiläufig, als wäre es keine große Sache und nichts wert. Ich kann mir vorstellen, wie er dabei mit den Schultern zuckt und es abtut wie den Sendeschluss einer Serie, die er sowieso nie geschaut hat.
„Wie? Ich... ich wollte nicht... Also ich meine nicht, dass... aber ich...", stammele ich verzweifelt.
Wow, du verdienst echt einen Award für Dummheit, meldet sich mein Gewissen.
„Reg dich ab, ich hab dich nur verarscht", lacht er.
„WAS?! Du bist so ein... Arschloch!", schimpfe ich ohne richtig darüber nachzudenken.
Aber hey, es stimmt! Wie kann er mir sowas nur immer wieder antun? Ich hab ihm das gerade wirklich geglaubt und er nützt dieses Vertrauen ihm gegenüber einfach aus, um mir einen dämlichen Streich zu spielen, sodass ich mich dümmer fühle als eine Kartoffel. Ich spüre wie mich unbeschreibbare Wut an den Knochen kitzelt und ich ziehe scharf die Luft ein, um dem nach Rache durstenden Feuer in mir mehr Sauerstoff zu geben.
„Hab ich gerade wirklich geschafft, dass du dich aus deinem Schneckenhaus heraus wagst und mich beschimpfst? Oder träume ich das gerade?" Er wirkt so amüsiert und sorglos, dass ich gleich noch etwas wütender werde.
DU LIEST GERADE
Sternträumerin
Mister / Thriller"Hoffnung ist nichts weiter als der jämmerliche, verzweifelte Wunsch, dass sich die Dinge doch noch zum Guten wenden. Manchmal ist es die Hoffnung, die dafür sorgt, dass wir am Leben bleiben und nicht ganz den Verstand verlieren. Aber viel zu oft wi...