Kapitel 5
Mittlerweile sind ca. zwei Tage vergangen seit ich diesen Albtraum hatte und bis jetzt ist zum Glück nichts dergleichen wieder vorgekommen. Trotzdem geistert dieses was-auch-immer-das-eigentlich-war immer wieder in meinem Kopf herum und ich muss mich fast rund um die Uhr bemühen, es zu verdrängen. Geredet habe ich immer noch kein Wort. Wozu auch? Bis jetzt war es noch nicht unbedingt notwendig und ich hab einfach keine Lust mehr. Eigentlich auf das alles hier. Ständig liege ich nur in meinem Bett, lese, schlafe, spiele Klavier oder sehe fern. Damit komme ich ganz gut zurecht, aber wie lange kann das noch so weitergehen? Dieses eintönige Leben kann doch nicht ewig so bleiben. Zumindest heute, an diesem wunderschönen – Sarkasmus bitte – Donnerstag gibt es eine „kleine“ Abwechslung.
Innerhalb von drei Tagen hat Onkel George es geschafft, ein Begräbnis zu organisieren. Wahrscheinlich will er es einfach schnell hinter sich bringen und da hab ich absolut nichts dagegen. Aber dass er es so schnell hin bekommen hat, verblüfft mich dann doch ein wenig. Anscheinend ist er ein wahres Organisations-Talent und gleichzeitig eine Person, die sehr gerne spontan handelt.
Im Moment stehe ich frisch aus der Dusche kommend und nur mit einem Handtuch umgewickelt vor meinem Bett und betrachte das schwarze Kleid, das darauf ausgebreitet ist. Es gehört eigentlich Audrey, aber sie hat gesagt, dass ich es anziehen soll, weil sie sowieso ein anderes tragen wird. Im Grunde genommen ist es ziemlich hübsch. Schlichter, schwarzer Stoff, der mit einer lieblichen Stickerei verziert ist. Eine Schulter ist trägerlos, über die andere wickelt sich ein schmales Stückchen des Stoffes, um die Taille ist ein silbernes Band angebracht, das man zu einer Schleife binden kann und einige Zentimeter unter der Hälfte meiner Oberschenkel endet es.
Wenn ich dieses Kleid in einem Geschäft gesehen hätte, wäre ich auch in die Versuchung geraten, es mir zu kaufen. Aber die Tatsache, das es Audreys Kleid ist, macht es dann irgendwie unattraktiv. Trotzdem ziehe ich mich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich an und ich muss zugeben, das es wirklich bequem ist und wie für mich geschneidert ist. Nur das silberne Band lasse ich weg, das ist mir dann doch zu viel.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich noch etwas über eine Stunde Zeit habe, um mir die Haare zu machen und mich sonst fertig zu machen, aber ich bin so motiviert wie eine alte, vergammelte Scheibe Brot. Ich setze mich vorsichtig auf mein Bett, um das Kleid nicht zu ruinieren. Zum Glück werden heute nicht viele Leute auftauchen, da es so kurzfristig ist. Onkel George war das offensichtlich komplett egal und vielleicht sogar lieber. Ein paar von Dads Arbeitskollegen werden kommen, ein paar seiner Kumpels, Grandma und Grandpa, Tante Susan mit ihren Kindern und schließlich George, Audrey und ich. Eigentlich hatte Sophie auch vor zu kommen, aber sie ist krank und ich hab ihr gesagt, dass sie das nicht tun muss.
Endlich sitzen wir im Auto und sind jetzt fast am Friedhof angekommen, der direkt neben der Kirche liegt. Zuerst begrüßen wir alle nach der Reihe – was für mich so viel heißt wie: versuchen zu lächeln, zu nicken und Leute zu umarmen, ohne ein Wort zu sagen. Dann geht es auch schon los, denn wir sind auf den letzten Drücker hierher gekommen, da Audrey so lange für ihre Haare gebraucht hat – und mal wieder hab ich einen Grund mehr, sie nicht zu mögen.
Der Pfarrer leiert monoton irgendeinen Text herunter, so wie Volksschüler, die Gedichte auswendig lernen müssen. Ich will eigentlich bewusst zuhören, aber das strengt so unheimlich an. Wahrscheinlich ist es genau das gleiche Zeug, wie auf jeder Beerdigung. Irgendwas von Auferstehung, Paradies, jetzt ist er an einem besseren Ort, möge er in Frieden ruhen, und so weiter. Bin ich die einzige hier, die das kein bisschen tröstend findet? Um mich herum sind alle diese Bekannten komplett gerührt, den Tränen nahe – oder sie weinen bereits wie Wasserfälle – und nicken zustimmend, als würden sie sich genau das gleiche denken.
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Sternträumerin
Mystery / Thriller"Hoffnung ist nichts weiter als der jämmerliche, verzweifelte Wunsch, dass sich die Dinge doch noch zum Guten wenden. Manchmal ist es die Hoffnung, die dafür sorgt, dass wir am Leben bleiben und nicht ganz den Verstand verlieren. Aber viel zu oft wi...