Kapitel 36 (Teil 2)

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Ich schlucke laut hörbar, atme zittrig und balle die Hände zu Fäusten.Tränen brennen bereits hinter meinen Augen, aber ich zwinge mich,noch eine Weile damit zu warten. Ich darf nicht aufgeben.

„Was willst du?", frage ich ohne mich umzudrehen, aber mit mehr Kraft in der Stimme als ich mir zugetraut hätte. Ja, ich klinge irgendwie sogar... wütend.

Ich will dir alles erklären." Die Person verändert sich. Obwohl sie mir fremd vorkommt, scheint die Art, wie sie diese Worte wählt, mir doch plötzlich vertraut zu sein.

„A-a-also schön..."

Ich darf nicht aufgeben.

Trotz der unbeschreiblichen Angst, der grenzenlosen Nervosität und den tausend Stimmen in meinem Kopf, die mir sagen, es nicht zu tun,schließe ich die Augen und drehe mich ganz langsam um. Warum ich die Augen schließe? Ich habe keine Ahnung. Es ist wie eine Art Reflex,ein Schutzmechanismus – allerdings darf ich mich deshalb nicht in Sicherheit wiegen.

Mach schon. Augen auf. Ganz schnell, wie bei einem Pflaster, das man von der Haut abzieht."

Jetzt bin ich mir zu neunzig Prozent sicher, dass ich den Menschen kenne,der hier vor mir steht. Und zu hundert Prozent kennt er mich. Ich weiß nur immer noch nicht, um wen es sich handelt. Solange ich meine Augen nicht öffne, wird sich daran auch nichts ändern...

Wie ein Sprung in bodenlose Tiefe. Ich denke nicht länger nach und lasse mich fallen. Doch kaum habe ich meine Augen geöffnet, trifft mich die Erkenntnis und noch größere Verwirrung mit einem Schlag, der durch Mark und Bein geht. Ich will lachen, schreien, weinen,springen, rennen, ... fliehen.

Aber alles was ich mache, ist, in unfassbar ruhigem Tonfall zu sagen: „Wer bist du?"

Vor mir steht ein Mädchen mit blasser Haut, blaugrauen Augen, schwarzem Haar und schmaler Statur. Niemand kann leugnen, dass es aussieht wie ich. Wirklich haargenau so. Seine Stimme klingt zwar etwas verzerrt, wenn ich sie in Gedanken nochmal durch meine Ohren klingen lasse, aber auch hier ist die Ähnlichkeit eindeutig. Allerdings: wer hat schon jemals seine eigene Stimme aus der Perspektive eines anderen wahrgenommen? Vielleicht haben wir sogar die exakt gleiche Stimme...

Mir wird leicht schwindelig und gleichzeitig bekomme ich dröhnende Kopfschmerzen.

Ich,meine liebe Chloe,... bin du. Chloe Jered. Oder zumindest war ich es einmal. Ich bin der Teil von dir, den sie zerstören wollten. Der Teil, der die Wahrheit kennt, sich an alles erinnert und an der Vergangenheit festhält, egal, wie grausam sie auch war."

Wenn ich vorher gewusst hätte, dass diese Antwort mehr neue Fragen aufwirft als alte zu beantworten, bin ich mir nicht sicher, ob ich trotzdem danach verlangt hätte. Wahrscheinlich handelt es sich hierum einen absurden Scherz. Das kann doch gar nicht ich selbst sein, die hier vor mir steht.

„Ich...ich verstehe das nicht. W-w-wie ist das möglich?", bringe ich hinter all meinen wirren Gedanken hervor.

Ich werde es dir erklären, indem ich dir die Wahrheit erzähle. Die ganze Wahrheit", antwortet mein Spiegelbild mit meiner Stimme. „Dank mir kennst du sogar schon kleine Teile davon,deshalb muss ich wohl nicht alles so genau erwähnen, oder?"

Ich werfe der Chloe vor mir einen mehr als verwirrten Blick zu, dem sie mit einem Lächeln entgegen kommt.

Lehn dich einfach zurück und hör mir zu. Unsere Geschichte beginnt vor elf Jahren – Paulas Tod. Du erinnerst dich an die Vision, die ich dir gezeigt habe? Paula wurde von meinem Vater erwürgt. Glaub mir,das ist die einzig richtige und reale Version von dem, was damals passiert ist. Wer sollte es besser wissen als ich? Immerhin war ich dabei. Ich habe gesehen, wie ihr Leben langsam und qualvoll gezwungen wurde, aus dem schwachen Körper herauszukriechen, in dem sie gefangen war. Rechne ruhig nochmal nach, falls du mir nicht vertraust, aber wir beide waren damals gerade mal fünf Jahre alt."Ein irres Lachen dringt aus dem Mund der Erzählerin.

SternträumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt