Kapitel 6

321 24 6
                                    

Kapitel 6

Mein Herz klopft aufgeregt schnell, vor lauter Neugier, aber ich stehe immer noch außerhalb der Küche im Flur und bin mir nicht sicher, ob ich da jetzt reingehen soll. Was kann schon so wichtig und so eine schlechte Nachricht für mich sein? Vor allem jetzt. Geht es wieder um Dad? Ich dachte, mit seinem Begräbnis heute, wäre das wichtigste getan und jetzt sollen wir „weitermachen“ - so gut das unter diesen Umständen eben geht. Kaum zu glauben, dass ich vor ca. 5 Stunden noch in dieser Kirche gesessen bin und die scheinbar endlose Predigt des Priesters über mich ergehen lassen musste.

In der Küche herrscht jetzt Totenstille. Ich erwarte fast, gleich dieses Grillenzirpen zu hören, wie es in manchen Serien oder Filmen bei zu viel Ruhe vorkommt und, das Unaufmerksamkeit oder fehlende Begeisterung – beispielsweise von einem Publikum – darstellen soll. Leises Geflüster – kaum ein Hauch der Worte – dringt bis zu meinen Ohren in den Vorraum durch, aber verstehen kann ich es natürlich leider nicht. Und das ist der Moment, in dem mein Geduldsfaden so lange strapaziert wurde, bis er schließlich reißt.

Als ich ein paar vorsichtige Schritte wage, kleben meine nackten Fußsohlen beinahe an dem Parkettboden fest und erzeugen deshalb ein seltsames Geräusch, während ich sie von der Fläche abhebe. Wenn Audrey und Onkel George jetzt noch nicht mitbekommen haben, dass ich hier draußen herumlungere, dann ist mir das auch egal, immerhin bringt mir das keinen Vorteil. Ich kann genau so gut einfach da rein spazieren und sie zur Rede stellen. Aber wie ich erwartet habe, hat sowieso mindestens einer von ihnen etwas gehört – gewittert oder wie auch immer – und jetzt kommt der Bruder meines verstorbenen Vaters zu mir in den Gang, bleibt knapp vor mir stehen und mustert mich mit schief-gelegtem Kopf.

Ein leichtes Ziehen in meiner Magengegend kündigt mal wieder das schlechte Gewissen an, das mich wohl inzwischen schon so gut kennt, dass es sich bei mir fast wie zu Hause fühlt. Was hab ich diesmal wieder falsch gemacht? Sag schon, du moralischer Kompass. Falls du denkst, ich habe gelauscht und wollte sie gar ausspionieren, muss ich dich enttäuschen. Das war reiner Zufall, bei mir bist du also an der falschen Adresse.

Ich versuche, mich damit abzulenken und zu beruhigen, aber Georges neugieriger, skeptischer Blick, der mich direkt durchbohrt und ein heißes Kribbeln der Schuld auf meiner Haut auslöst, sagt mir irgendwie, dass sich mein Gewissen nicht irrt. Er scheint zu erwarten, dass ich irgendetwas sage, mich vielleicht entschuldige oder versuche, mit irgendeiner Ausrede zu erklären, wieso ich hier stehe. Hat er wirklich vergessen, dass ich seit Sonntag – also heute den 5. Tag in Folge – kein auch noch so mickriges Wörtchen über meine Lippen gebracht habe? Ich erkenne in seinen Augen, dass er scharf nachdenkt. Wahrscheinlich über die richtigen Worte, mit denen er mich strafen will, dafür, dass ich sie „belauscht“ habe.

„Komm mit, Chloe“, sagt er stattdessen. Er wirkt müde und viel älter als sonst, seine Augen haben den üblichen, strahlenden Glanz fast gänzlich verloren, jetzt wirken sie bloß matt und grau, wie dreckiges, trübes Wasser.

Ohne eine Antwort von mir – scheinbar hat er doch sowieso keine erwartet – folge ich ihm in die Küche und setze mich an den Küchentisch. Audrey steht vor der Spüle und wäscht einiges Geschirr, sie schenkt mir einen kurzen Blick, der wohl aufmunternd sein soll, aber irgendwie sehe ich darin eine Spur von Zufriedenheit und Genugtuung. Oder das interpretiere ich nur hinein, wie ich es so oft tue. Ein riesiger Seufzer bildet sich in meinem Innersten, aber ich muss ihn zähmen und darf ihn jetzt nicht freilassen, das könnten die beiden falsch verstehen.

„Also...“, setzt Onkel George an. „Du hast gehört, worüber wir vorhin gesprochen haben, nicht wahr?“

Ich mache mit meiner Hand eine abschätzende Bewegung, die signalisieren soll, dass ich nicht alles mitbekommen habe, aber sehr wohl etwas weiß. Er steht Gegenüber von mir auf der anderen Seite des Tisches, stützt sich mit seinen Händen an einer Sessellehne ab und nickt, um mir zu zeigen, dass er verstanden hat.

SternträumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt