Kapitel 14
„Schneewittchen! Jetzt warte doch, verdammt noch mal!“, schreit Kyle mir nach, doch ich gehe – laufe beinahe – durch den Schulflur, um schnellstmöglich zum Ausgang zu kommen und ignoriere seine Rufe.
Heute ist Donnerstag. Eine Woche und drei Tage sind vergangen, seit meinem ersten, richtigen Tag hier. Seitdem ich Kyle kennen gelernt habe. Seitdem ich ihn angebrüllt habe und verlangt habe, dass er verschwindet. In dieser Zeit ist nicht viel passiert, abgesehen davon, dass ich ihm immer wieder aus dem Weg gegangen bin und ich von allen anderen Leuten sowieso fast nicht beachtet worden bin. Aber immer wieder bin ich seinen Blicken ausgewichen, habe dafür gesorgt, dass ich unbemerkt in einer Menschenmenge untergehe und nicht auffalle. Jetzt hat er mich wohl offensichtlich doch bemerkt und ich flüchte vor ihm wie eine gesuchte Massenmörderin – oder eine hormongesteuerte, überforderte Teenagerin.
Plötzlich höre ich meinen „speziellen Spitznamen“ nicht mehr durch das Gebäude hallen und auch das Geräusch seiner flinken Schritte ist verklungen. Also entweder er hat endlich aufgegeben und eingesehen, dass ich nicht reden will oder er hat sich in Luft aufgelöst. Wie auch immer die Antwort lautet, bin ich gleichzeitig erleichtert, aber auch ein wenig enttäuscht, wenn ich ehrlich bin. Ich verlangsame mein Tempo und lasse zu, dass ich über diese Situation nachdenke. Man rennt vor Leuten davon, mit denen man nicht sprechen will, aber kaum geben sie auf, hat man das Gefühl, man wäre ihnen auf einmal komplett egal. Ist das Logik? Ich will doch gar kein Gespräch mit diesem Jungen führen! Wieso bin ich dann jetzt so.... Traurig? Wütend? Enttäuscht? Verwirrt? Durcheinander?
„Buh!“, haucht mir jetzt leise jemand ins Ohr, während er meine Schulter packt. Ich zucke zusammen vor Schreck. Wie könnte es anders sein – natürlich ist dieser „jemand“ Kyle.
„Wie hast du...?“, frage ich überrumpelt.
„Man kennt ein paar andere Wege, um von A nach B zu kommen, wenn man länger auf dieser Schule ist.“ Er zuckt bloß mit den Schultern und ich warte darauf, dass er gleich wieder sein typisches, schelmisches Lächeln aufsetzt.
Macht er aber nicht. Er sieht mich bloß abwartend an und ich nehme all meine Konzentration zusammen und starre zurück – direkt in seine braunen Augen. Sie strahlen Wärme aus und je länger ich sie so betrachte, erinnern sie mich immer mehr an einen Wald. Es wirkt so als würde sich ein Muster wie das einer Baumrinde durch seine Iris ziehen – irgendwie ein seltsamer Vergleich, aber ich kann mir nicht helfen, es ist so.
„Hast du jetzt vielleicht vor, mir zu erklären, warum du mir aus dem Weg gehst?“, fragt er schließlich, als es ihm anscheinend zu blöd wird.
„Ich... a-also...“ Ich muss den Blick abwenden, um mir meine Worte bestens zurecht zu legen. Ich schließe die Augen letztendlich, da ich nicht weiß, wo ich hinschauen soll, und atme tief durch. „Ich bin eine Katastrophe. Ein einziges Durcheinander. Vielleicht klingt das verrückt, – wahrscheinlich ist es das sogar und wahrscheinlich bin ich selbst das auch – aber du solltest dich von mir fernhalten. Manchmal hab ich mich selbst nicht unter Kontrolle und ich sage Sachen, die ich überhaupt nicht so meine. Es... es tut mir leid, Kyle. Ich will nicht darüber reden, was einmal war und was passiert ist, dass ich so bin wie ich bin. Ich will nichts anderes als einfach vergessen und das kann ich am besten allein.“
Zaghaft öffne ich meine Augen wieder, um in seiner Mimik ablesen zu können, was er dazu meint. Aber er steht nicht mehr hier. Hätte ich ihn nicht weggehen hören sollen? Würde er wirklich einfach so verschwinden? Das traue ich ihm irgendwie nicht zu – aber wie gut kenne ich ihn schon? Mit jeder Sekunde die verstreicht, fange ich an zu glauben, dass ich mir ihn gerade eben nur eingebildet habe. Vielleicht existiert er überhaupt nicht. Er lebt nur in meiner Fantasie. Vielleicht träume ich das alles hier? Kyle, diese neue Schule, den Umzug, Dad, Miranda, Mum, George, Audrey. Mich selbst.
DU LIEST GERADE
Sternträumerin
Mystery / Thriller"Hoffnung ist nichts weiter als der jämmerliche, verzweifelte Wunsch, dass sich die Dinge doch noch zum Guten wenden. Manchmal ist es die Hoffnung, die dafür sorgt, dass wir am Leben bleiben und nicht ganz den Verstand verlieren. Aber viel zu oft wi...