Kapitel 7

328 21 4
                                    

Kapitel 7

Ich weiß genau, was er versucht. Er will mir Wennington schön reden, damit ich mich wieder mit ihm versöhne und freiwillig mitkomme, aber er hat keine Ahnung, was mir gefällt, was ich an meiner Heimatstadt schätze und was nicht.

„Nicht weit von unserem Haus entfernt ist eine Bushaltestelle. Von dort kommst du in kürzester Zeit in die Schule und wieder zurück, außerdem gibt es auch eine Verbindung, die direkt ans Meer führt! Nur 20 Minuten Fahrzeit, fantastisch, oder?“, fragt Onkel George rein rhetorisch, aber mit der Begeisterung eines Kleinkindes. „Wie du weißt liegt Wennington ziemlich nah an der Küste, also sind im Sommer auch ab und zu Touristen dort. Allerdings ist das Dorf immer noch überschaubar, keine Sorge. Die Schule, auf die du gehen wirst, hat in etwa 300 Schüler, also wirst du schnell mit allen vertraut und ich bin mir sicher, du wirst bald tolle Freunde finden.“

300 Schüler? Oh Gott, was für ein Kaff ist das denn? Hier in meine Schule gehen ca. 1200 Leute – und das ist nicht die einzige Ausbildungsmöglichkeit für die Oberstufe; sie zählt außerdem noch zu den relativ kleinen.

Ich bemühe mich, meine Mundwinkel nach oben zu schieben und hoffe, dass mein Onkel bemerkt, wie sehr er mich mit diesem Umzug quält. Eine Diskussion kann ich mir allerdings sparen, so viel hab ich von gestern schon gelernt. Es muss doch irgendeine andere Art geben, ihn umzustimmen. Die richtige Antwort will wohl Verstecken mit mir spielen und sie scheint echt gut darin zu sein, aber sie kennt mich noch nicht – ich werde sie finden.

Während ich noch so grübele, hat er schon wieder angefangen, zu reden, und sorgt somit dafür, dass mir die Lösung wieder entwischt.

„Audrey ist heute morgen mit ihrem Auto zurück gefahren, um ein wenig herzurichten. Glücklicherweise steht unser Gästezimmer für dich zur Verfügung“ - was für ein Glück. „Es ist zwar nichts Besonderes, aber es wird dir gefallen. Du bekommst außerdem dein eigenes Badezimmer und hast sogar einen Balkon.“ Er sieht mich an, als würde er mir hiermit einen riesigen Gefallen tun und die Träume erfüllen, die ich mir schon immer in meiner Fantasie ausgemalt habe. In Wirklichkeit zwingt er mich jedoch, etwas zu tun, was ich überhaupt nicht will und nimmt mir meine sichere und vertraute Heimat, mit allem was mir wichtig ist. „Am Sonntag fahren dann wir beide. Ich muss montags wieder zu arbeiten beginnen und du kannst entweder den gleichen Tag zu deinem ersten Schultag machen oder du wartest noch bis Dienstag. Ach ja, Audrey hat gemeint, sie meldet dich heute an. Du musst dann noch ein Formular ausfüllen und ein paar Dokumente vorweisen. Zum Beispiel deine Zeugnisse, Geburtsurkunde, … solches Zeug eben. Ich erkläre dir das besser noch genauer, wenn du sonst alles wichtige gepackt hast. Am besten wir rufen heute auch noch bei deiner alten Schule an, um ihnen alles zu erklären und dich abzumelden.“ Seine Stimme klingt so schnell und aufgeregt, als hätte jemand seine Worte aufgenommen und sie dann in Zeitraffer abgespielt. Ich höre zwar, was er sagt, verstehe aber kaum einen Sinn in den einzelnen Sätzen.

Der Umzug allein ist für mich schon schwer zu verkraften und überhaupt zu realisieren, aber diese ganzen Einzelheiten dann auch noch dazu... Wie kann er sich das alles merken? Und es dann wie auf Knopfdruck wiedergeben, als hätte er sich sein ganzes Leben lang auf diese „Rede“ vorbereitet? Sekunde, hat er gesagt, dass ich Sonntag schon umziehen werde? Sonntag? Das ist in weniger als 2 Tagen!

Mein Atem wird schneller und schneller. Er erinnert mich an eine Schaukel, die immer stärker hin und her schwingt, bis sie sich irgendwann um den Ast – oder wo auch immer sie befestigt ist – herum wickelt, weil sie so viel Schwung hat. Auch mein Herzschlag passt sich an dieses Tempo an. Das ist zu viel. Eindeutig zu viel. Eine Woche, nachdem ich erfahren habe, dass mein Vater plötzlich tot ist, soll ich schon von hier wegziehen und alles hinter mir lassen? Ich schließe meine Augen und wische meine schwitzenden, zittrigen Hände an meiner Pyjama-Hose ab.

SternträumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt