45) Über die goldene Brücke

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Aljan demonstriert mir im nächsten Moment, was er mit seiner Aussage meint. Sein einfaches Baumwollhemd verschwindet unter einer dicken Pelzjacke.

Grinsend schaut er mich an. "Jetzt du!"

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie sich mein T-Shirt in eine warme Jacke verwandelt. Bevor ich meine Augen wieder öffne, weiß ich schon, dass es geklappt hat. Als ich an mir herunter sehe, kann ich nicht anders, als den beigefarbenen Parka zu bewundern. Sogar einen Pelzkragen habe ich geschafft. Im nächsten Leben werde ich Modedesignerin, denke ich. Dann kommt mir noch eine Idee. Ich stelle mir Schal, Mütze und Handschuhe vor.

Wie aus dem Nichts werden im nächsten Moment mein Kopf, Hals und die Hände in ein kuscheliges Strickensemble in Babyblau gewickelt.

"Nett", stelle ich fest und bewege meine Finger. "Könnte ich diesen Service bitte auch Zuhause auf der Erde kriegen?"

Aber Aljan ist schon voraus gelaufen und wartet auf mich. "Wer weiß, was du als Belohnung für die Rettung der Unterwelt bekommst. Wenn du das haben willst." Ich kann sehen, wie er unter seiner Jacke mit den Schultern zuckt und mir zuzwinkert. "Aber erst die Arbeit, dann das Vergnügen."

"Schon gut", stöhne ich und schließe zu ihm auf. "Aber ich gehe davon aus, dass du unter Vergnügen etwas anderes verstehst als dein Bruder."

"Erinner mich nicht daran", entgegnet er und hebt abwehrend die Hände.

Mit meinen Turnschuhen versinke ich bei jedem Schritt in knietiefem Schnee. Zeit, auch diesen Umstand zu ändern.

Meine Stiefel bringen mir einen bewundernden Blick von Aljan ein. Tatsächlich ist es jetzt auch nicht mehr so anstrengend, sich einen Weg durch die tiefe Schneedecke zu bahnen.

"Wo genau sind wir hier?", rufe ich durch den peitschenden Wind.

"Hoch im Norden", antwortet er mir. Er grinst und ich weiß nicht, ob er es ernst meint.

"Entweder ihr sprecht in Rätseln oder eure Antworten sind so ungenau wie möglich." Ich schüttel den Kopf.

"Möchtest du die genauen Koordinaten?" Er zieht eine Augenbraue hoch. "Fürchte, damit kann ich in dieser Dimension nicht dienen."

Dann hat er aber doch Erbarmen mit mir und meiner Unwissenheit.

"Helheim wird von einem Fluss umgeben. Gjallarbrù, die goldene Brücke führt darüber und wird von der Riesin Modgudur und dem Helhund Garm bewacht." Er zeigt über die weite, weiße Ebene. "Dort hinten."

Ich kann nichts erkennen. "Fluss? Brücke? Wachhund?", wiederhole ich. "Fällt den Göttern nichts Neues ein oder haben sie alle voneinander abgeschaut?"

"Gute Frage, Dalerana", erwidert Aljan. "Gegenfrage: Wer, glaubst du, hat sich das ausgedacht? Götter oder Menschen? Was war zuerst da, Huhn oder Ei?"

"Das Ur-Ei?", werfe ich halbfragend ein. "Das dann explodiert ist und den Ur-Knall ausgelöst hat?"

Aljan lacht. "Ja, vermutlich so irgendwie."

Wir stapfen weiter. "Jedenfalls müssen wir dann einen eisernen Zaun überwinden und gelangen durch das Höllentor Helgrind schließlich nach Helheim, auch Niflheim genannt. Helheim war ursprünglich ein Aufenthaltsort für die Toten, die den ganz gewöhnlichen Alterstod gestorben sind. Erst später wurde diese Vorstellung um Náströnd ergänzt, vermutlich durch christliche Einflüsse."

"Náströnd?", frage ich ratlos, weil Aljan nicht weiterspricht und mir der Begriff nichts sagt.

"Ein Strafort", erklärt er. "Für die Verbrecher und Sünder."

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt