"Sollte uns nicht eigentlich ein Fährmann übersetzen?", frage ich und versuche mich an alles zu erinnern, was ich über das griechische Totenreich weiß. "Und war da nicht noch irgendwas mit einer Münze?"
Aljan ist gerade damit beschäftigt, ein hölzernes Floß über das felsige Ufer zu schieben.
Irgendwie habe ich ein Déjavue. Was haben die Unterwelten nur immer mit ihren Flüssen und Gewässern? Aber, immmerhin gibt es hier kein Schilf und keine Binsen, in denen sich Schlangen verstecken können.
Endlich hat Aljan das Floß zum Rand des Wassers bugsiert und richtet sich auf. "Eigentlich sollte Charon hier auf uns warten, aber mit den ersten Anzeichen der Zerstörung hat er sich genauso verkrümelt, wie all die anderen, die hier die Stellung halten sollten. Sogar Kerberos hat er mitgenommen."
"Macht nichts", entgegne ich beinahe erleichtert. Ich mag weder Schlangen noch dreiköpfige, schlangenhaarige Höllenhunde. Mich schüttelt es alleine schon bei der Vorstellung. Und ich hoffe, dass auch die Harpyen schön da bleiben, wo sie gerade sind.
Bevor ich auf das Floß steige, das so oder so nicht besonders vertrauenserweckend aussieht, will ich aber doch lieber auf Nummer Sicher gehen. "Gibt es in diesem Gewässer irgendwelche Viecher, von denen ich wissen sollte?" Noch ehe Aljan zur Antwort ansetzt, bereue ich meine Frage bereits. Vielleicht ist Nichtwissen manchmal die bessere Option.
"In diesen Gewässern leben alle möglichen Wesen. Manchmal kann man hier der Hydra begegnen. Und wo Hydra ist, ist auch Karkinos, der Krebs, nicht weit."
Ich schaue zuerst Aljan ungläubig an, aber erkenne sofort, dass seine Antwort ernst gemeint ist. Anschließend scanne ich die aufpeitschenden Wellen, aber nirgends ist auch nur ein Schlangenkopf zu sehen. Bestimmt lauert sie irgendwo in der Tiefe auf uns.
"Gibt es einen anderen Weg?", frage ich. "Ich möchte den Styx doch lieber nicht überqueren."
"Du brauchst keine Angst haben." Aljan streckt mir seine Hand entgegen und hat mich augenblicklich durchschaut. "Sie kann uns nichts anhaben und meistens bleibt sie doch in ihrer Sumpfhöhle. Die Wahrscheinlichkeit ihr zu begegnen ist also relativ gering."
"Meistens ist mir nicht genug." Nach dem Vorfall im Gefilde der Binsen möchte ich kein Risiko mehr eingehen. Aljan seufzt und zieht das Floß zurück ans Ufer, ehe er sich mir zuwendet.
"Dann bleiben wir eben erst einmal hier. Komm setz dich." Er lässt sich auf einem der Steine nieder und ich tue es ihm gleich, in gebührendem Abstand zu den schnell dahinfließenden Fluten.
"Der Styx oder Acheron trennt das Reich der Lebenden vom Totenreich des Hades. Er umfließt den Hades ganze neun Mal. Um hinüber zu gelangen, muss man dem Fährmann eine Goldmünze, den sogenannten Obolus, geben. Diese wurde den Verstorbenen unter die Zunge gelegt. Kein Wesen würde es wagen, die Fähre anzugreifen. Da kannst du unbesorgt sein."
Ich ziehe die Knie an meinen Körper und umschlinge sie mit meinen Händen. "Mag ja sein, aber du musst auch zugeben, dass bei euch im Moment nichts so ist, wie es sein sollte." Ich denke an unsere Begegnung mit dem Chatiu-Dämon. Auch Aljan scheint diesen Vorfall noch gut in Erinnerung zu haben.
"Das stimmt auch wieder. Wir müssen ja nicht hinüber, ich kann dir auch so ein wenig erzählen." Sein Plan gefällt mir, auch wenn die Gegend um uns kaum einladend erscheint, bleibe ich lieber hier an Ort und Stelle, anstatt herauszufinden, was sich auf der anderen Seite befindet. Mit einem Kopfnicken gebe ich ihm zu verstehen, dass ich ganz Ohr bin.
"Verstorbene, die keine Münze hatten, mussten hundert Jahre hier am Ufer verbringen, bis sie hinüber durften."
Mich schaudert. "Das ist nicht gerade erbauend."
Aljan rückt ein wenig näher an mich heran. "Tut mir leid. Die griechische Mythologie hat viele Abgründe, aber auch einen großen Hang zum Heldenepos. Ist dir die Geschichte von Achilles ein Begriff?"
Heute kann ich wirklich mit meinem Halbwissen glänzen. "Der unverwundbare Held aus der Ilias? Der mit der Ferse?"
Aljan lächelt. "Genau der. Weißt du auch, wie er so unverwundbar wurde und warum ausgerechnet die Ferse zu seinem Verhängnis wurde?"
Meine Glückssträhne endet und ich muss passen. "Das kriege ich nicht mehr so genau zusammen", gestehe ich ihm. Natürlich lässt er sich die Gelegenheit, mich in Kenntnis zu setzen, nicht entgehen.
"Achilles wurde von seiner Mutter in diesen Wassern gebadet und dadurch unverwundbar. Mit Ausnahme seiner Ferse, an der sie ihn festhielt. Für Normalsterbliche aber gilt das Wasser als giftig. Kein Lebender kann daher die Gewässer schwimmend durchqueren. Alexander der Große soll einer Legende zufolge mit Wasser aus dem Styx vergiftet worden sein."
Ich beäuge die säuselnden Wellen kritisch, zum einen beherbergen sie Seeschlangen, zum anderen sollen sie giftig sein. "Nicht sehr einladend", murmele ich.
"Ich habe nie behautet, dass es hier einladend sei." Aljan sitzt so nahe bei mir, dass ich seine Körperwärme an meiner Seite spüren kann. Mir muss ganz schön kalt sein.
"Jedenfalls wäre ich nie auf die Idee gekommen, hier schwimmen zu gehen."
Allein der Gedanke jagt mir einen weiteren Schauer über den Rücken.
"Für die olympischen Götter hat dieser Fluss eine große Bedeutung. Besonders heilige Eide wurden 'beim Styx' geschworen. Wer einen solchen Eid mutwillig brach, verlor zur Strafe seine Stimme für die Dauer von neun Jahren. Wir sollten also aufpassen, was wir hier sprechen." Zum Ende hin verfällt Aljan in ein Flüstern. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, ob er mich auf den Arm nehmen will oder ob seine Worte ernst gemeint sind. So wie ich Aljan kenne, vermute ich Letzteres, aber endlich habe ich meine Lektion gelernt und verzichte darauf, nachzufragen. Wenn ich ehrlich bin, will ich es gar nicht so genau wissen.
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Brennende Feuer - Dunkle Schatten
FantasyAlles beginnt mit einer außerkörperlichen Erfahrung für Dalerana. Dann steigt die junge Frau hinab in das Reich des Todes, wo nichts mehr ist, wie es sein sollte. Eine Katastrophe droht, die Arbeit von Jahrtausenden in endlose Abgründe zu reißen. Au...