Modgudur löst sich von ihrer Position hinter dem Hirschgeweih-Thron und geleitet uns über den gleichen Weg wieder zurück. Kurz vor dem Tor nach draußen hält sie jedoch an und öffnet eine unscheinbare Tür im Gemäuer auf der gegenüberliegenden Seite.
"Hier entlang", sagt sie, "über die Brücke führt kein Weg zurück."
Nachdem wir die Schwelle überquert haben, schließt sie hinter uns die Tür und bleibt auf der anderen Seite. Sie wird uns offenbar nicht begleiten.
Ich schaue zu Aljan, dann in den großen Saal, den wir betreten haben.
Alles ist in Dunkelheit getaucht, die Luft ist klamm. Es riecht seltsam. Nur ganz am anderen Ende reiht sich eine Tür an die nächste. Sie sehen alle gleich aus und heben sich nur von der Schwärze des Raumes ab, weil sie einen leichten Schimmer von sich geben, als würden sie von innen heraus leuchten.
"Und jetzt?", flüstere ich Aljan zu.
"Der große Saal fern der Sonne, in dem alle Türen nordwärts führen. Am besten du schließt jetzt deine Augen. Ich führe dich."
Seine Stimme klingt ernst. Im gleichen Moment greift er nach meinem Ellbogen. Ich vertraue ihm und folge seiner Anweisung.
Mit geschlossenen Augen steigt mir der Geruch noch bewusster in die Nase. Die Luft riecht feucht und modrig mit einer brennend scharfen Unternote.
Die Entfernung kommt mir ewig vor. Aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich meine Schritte vorsichtig und langsam setze.
"Im Zentrum von Nifelheim befindet sich eine Quelle." Aljans Stimme erklingt dicht an meinem Ohr. Er muss nicht laut reden. "Diese speiste, noch bevor die Götter die Welt schufen, die elf Flüsse. Das Wasser strömte in einen Graben, wo es als Eis und Reif auf die glühenden Funken und die Hizte der Feuerwelt traf und woraus sich das erste Leben bildete. Aus dieser Urquelle soll auch der Weltenbaum gewachsen sein. Eine seiner drei Wurzeln ragt über Nifelheim und über die Urquelle hinweg." Aljan verstummt. Stille umhüllt uns. Stille und in meinem Fall Dunkelheit. Dunkelheit gepaart mit Unwissenheit. Keine gute Mischung.
Etwas ploppt in regelmäßigen Abständen und das Geräusch erinnert mich an fallende Regentropfen, die sachte auf dem Boden auftreffen. Aber es ist ein weiteres Geräusch, dass mich viel mehr beunruhigt. Ein an und abschwellendes Zischen, wie wenn Wasser in großer Hitze verdunstet.
"Was ist das? Und warum sollte ich meine Augen schließen?" Ich drücke meine Finger fester um Aljans Arm, presse aber gehorsam meine Augen noch weiter zusammen.
"Du bist sicher", erwidert er mit fester Stimme. "Dir passiert nichts, aber glaube mir, das willst du nicht sehen."
Etwas Kaltes streift meine Wange, ich löse meine Hand, taste nach meinem Gesicht und öffne gleichzeitig die Augen. Ich schreie und weiß mit einem Mal, warum Aljan wollte, dass ich das nicht sehe. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu schreien. Meine Schreie hallen von den Wänden. Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper und ich kann mich nur mit Mühe zurückhalten, nicht auf Aljans Arme zu springen, damit er mich beschützt. Vielleicht würde ich es, wenn ich mich nicht wie versteinert fühlen würde.
Um uns, über uns, überall winden sich Schlangen von den Wänden. Sie winden sich und strecken uns ihre geöffneten Münder entgegen. Gespaltene Zungen zischen uns entgegen und von ihren spitzen Zähnen tropft Gift herab.
Aljan legt mir beide Hände um die Schultern und schiebt mich vorwärts. "Sie können uns nichts tun. Du hast es gleich geschafft." Willig folge ich seiner Führung. "In der Quelle herrschen unzählige Schlangen, die die Verstorbenen quälen. Auch an dem Ort, den wir gleich betreten. Tut mir leid."
Inzwischen haben wir die Türen auf der anderen Seite fast erreicht. Auch um sie winden sich unzählige Schlangen. Aber sie scheinen mit der Wand verwachsen zu sein, jedenfalls kommt uns keine näher, nur ihre Köpfe zucken uns entgegen. Der Weg hinaus führt also unweigerlich an ihnen vorbei. Hinter allen Türen dringt ein heller Schein hervor.
Aber am liebsten würde ich mich einfach an Ort und Stelle in Luft auflösen. Im gleichen Moment geht Aljans Griff ins Leere und auf sein Gesicht tritt ein verblüffter Gesichtsausdruck.
"Oh!", entfährt es mir. Ein bekanntes Gefühl durchströmt mich, aber dieses Mal widerstehe ich dem Verlangen mich wie ein wirbelnder Lufthauch durch den Raum zu bewegen. Stattdessen verdichte ich mich zu einem Ball und nehme so viel Abstand zu den Schlangen ein, wie nur irgendmöglich.
An etwas anderes kann ich gerade gar nicht denken.
"Welche?", frage ich und Aljan öffnet eine der Türen. Er wirkt sicher in dem was er tut und weiß sich hier zurechtzufinden, also vertraue ich ihm und verflüchtige mich durch die Tür, ehe er mir folgen kann. Ich will einfach nur weg, wohin ist mir völlig egal.
Grelles Licht empfängt uns. Wir befinden uns wieder unter freiem Himmel. Aber den Boden aus Eis, zischenden Schlangen und sich windenden Ungeheuern werde ich nicht berühren. Und ich werde nicht zulassen, dass sie mich berühren. Ich beschließe, vorerst dieser gestaltlose Windhauch zu bleiben. Auch die vielen schwarzen Risse, die die Eisdecke in einem wilden Zickzackmuster durchfurchen, können mir so nichts anhaben.
Aljan beäugt meine zusammengeballte Form belustigt. "Gute Idee, Dalerana." Dann verschwimmt auch seine Form und er löst sich in Luft auf.
"Das hier ist Náströnd, der Leichenstrand. Unzählige träge Ströme fließen von hier aus ins Urmeer, das den Anfang aller Zeit und den Zustand allen Chaoses verkörpert." Während er redet, wirbelt seine verflüchtigte Erscheinung neben mir auf und ab. Wir schweben über einen dieser breiten, aber träge dahinfließenden Urströme, sowie über mehrere meterbreite Risse im Boden hinweg, als wäre nichts. Dabei versuche ich so viel Abstand von den sich windenden und zischenden Kreaturen zu halten, wie nur irgendwie möglich.
"Es ist ein Strafort für Mörder und Eidbrüchige, erst sehr viel später unter christlichen Einflüssen entstanden. Hier lebt Nidhögg, der schlangenartige Drache. Wölfe und Schlangenwesen fressen die Toten", erklärt er und jemand klatscht Applaus. Ich bin es nicht.
"Wenigstens einer hat es für wichtig befunden, sich all das zu merken."
Aljans Auf- und Abgehüpfe stoppt abrupt. "Vater?", stammelt er und ich folge der Richtung, aus der die Worte gekommen sind.
DU LIEST GERADE
Brennende Feuer - Dunkle Schatten
FantasyAlles beginnt mit einer außerkörperlichen Erfahrung für Dalerana. Dann steigt die junge Frau hinab in das Reich des Todes, wo nichts mehr ist, wie es sein sollte. Eine Katastrophe droht, die Arbeit von Jahrtausenden in endlose Abgründe zu reißen. Au...